Angekettet, eingesperrt – viele Menschen mit Behinderung sehen sich seit Jahren von der Politik im Stich gelassen. Ein riesiges Gesetz soll helfen. Schafft es die Regierung, die Fesseln zu lösen?
Acht Jahre nach Inkrafttreten des UN-Abkommens über die Rechte der Behinderten soll es an diesem Dienstag in Deutschland so weit sein. Das entscheidende Gesetz für die mehr als zehn Millionen Menschen mit Behinderung in Deutschland kommt im Bundeskabinett auf den Weg. Niemand soll mehr über ihren Kopf hinweg entscheiden – das ist der Tenor der UN-Konvention, der nun auch bundesweit gelten soll. Doch die Betroffenen selbst zweifeln am Erfolg des fast 400 Seiten starken Gesetzeswerks.
„Das Bundesteilhabegesetz ist ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg hin zu einer inklusiven Gesellschaft“, sagt Sozialministerin Andrea Nahles (SPD). Die Geschäftsführerin des Vereins Selbstbestimmt Leben, Sigrid Arnade, hält dagegen: „Das ist ein Spargesetz.“
Was ist geplant?
Behinderte sollen lernen können, wo sie wollen. Sie sollen nicht fern städtischen oder dörflichen Lebens in Einrichtungen wohnen müssen, sondern frei wählen können. Es soll ein Riesenschritt sein in einer seit Jahrzehnten laufenden Entwicklung, in der sich viele Betroffene zunächst mit Hilfe ambulanter Dienste aus den Zwängen von Heimen befreit haben. Auch wer aus einer Werkstatt in die normale Jobwelt wechseln will, soll das leichter können. Das sind Kernziele – und dafür brauchen die Menschen mit Behinderung mehr Assistenten, rechtliche Möglichkeiten, konkrete Hilfe. Was ist geplant?
Lohnkostenzuschüsse: Arbeitgeber sollen bei der Einstellung von Menschen mit Behinderung bis zu 75 Prozent des Lohns erstattet bekommen. Mit diesem Budget für Arbeit soll die Zahl der rund 39 000 Unternehmen ohne Behinderte unter ihren Beschäftigten gesenkt werden. Wer einen höheren Studienabschluss macht, soll Assistenzleistungen bekommen.
Vermögen: Wer Eingliederungshilfe erhält, also Sozialhilfe für Menschen mit dauerhafter oder drohender Behinderung, soll nicht mehr nur 2600 Euro seines Barvermögen behalten dürfen, ohne dass dieses angerechnet wird. Ab 2017 sollen es 27 600, ab 2020 dann 50 000 Euro sein. Dann soll auch das Partnereinkommen anrechnungsfrei bleiben. Zudem soll die Vorlage des Einkommensteuerbescheids reichen – heute müssen Betroffene ihre Einkommen und Ausgaben im Detail offenlegen.
Teilhabeplan: Sozialamt, Reha-Träger, Bundesagentur, Sozialkassen – bisher muss ein Mensch mit Behinderung oft die Stellen abklappern und alle möglichen Formulare ausfüllen. Künftig soll ein einziger Antrag das gesamte Prüf- und Entscheidungsverfahren in Gang setzen. Die Betroffenen sollen besser beraten werden, die Ämter und Stellen sollen sich kurzschließen und einen Teilhabeplan erstellen. Exakt soll ermittelt werden, was der Einzelne braucht.
Nächste Proteste sind schon geplant
Trotzdem sind viele Behinderte empört – das haben teils spektakuläre Protestaktionen deutlich gemacht, etwa als sich Mitte Mai Rollstuhlfahrer nahe dem Bundestag anketteten. Hanna Kindlein war eine von ihnen. „Ich wünsche mir, dass es für mich selbstverständlich ist, dass ich abends mal in eine Kneipe gehen kann, ohne das planen zu müssen“, sagt die 32-Jährige. Doch nun fürchtet sie: Leistungen – etwa Assistenten zur Hilfe bei der Fortbewegung – sollen mehreren Betroffenen gemeinsam gewährt werden können. Die Befürchtung geht bei Betroffenen um: Wegen diesem Poolen ist man doch wieder an andere gebunden – und eben nicht frei.
Lange hat Nahles vor allem mit Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) über das Gesetz verhandelt. Manche Forderungen der Behindertenverbände sind auch noch in den vergangenen Wochen berücksichtigt worden – andere nicht. Das Gesetz soll 500 bis 700 Millionen Euro pro Jahr kosten. Aber: Mit den neuen Paragrafen soll bei der Eingliederungshilfe für Behinderte auch auf die Bremse getreten werden.
Die Zahl der Empfänger wuchs binnen 20 Jahren auf mehr als das Doppelte, zuletzt 860 000 Menschen. Seit der Wiedervereinigung stiegen die Ausgaben von 4 auf 15 Milliarden Euro. Die Geschäftsführerin von Selbstbestimmt Leben, Arnade, kritisiert etwa, bei Sanitätshäusern, Schulassistenten, Gebärdendolmetschern oder Betreuern solle per Gesetz nun eine „Preisspirale nach unten“ in Gang gesetzt werden. Pünktlich zum Kabinettsbeschluss wollen Betroffene am Dienstag wieder protestieren – und sich symbolisch in einen Käfig am Berliner Hauptbahnhof einsperren lassen.
Von Basil Wegener (dpa)