„Kinder sollten sich anfassen dürfen“

Foto: Odilon Dimier/picture alliance/Photo Alto

Vagina? Vulva? Selbst viele Erwachsene kennen die richtigen Begriffe für die weiblichen Geschlechtsorgane nicht. Die Sexualwissenschaftlerin Ulrike Schmauch erklärt im Interview, warum darüber zu sprechen schon für Kinder wichtig ist und wie sie sich mit ihrer kindlichen Sexualität beschäftigen können.

Nora Burgard-Arp: Frau Schmauch, was ist die korrekte Bezeichnung für das weibliche Geschlecht?

Ulrike Schmauch: Die korrekte Bezeichnung für das weibliche Geschlechtsorgan ist Vulva. Leider ist dieser Begriff sehr wenig verbreitet. Die Vulva schließt die inneren und äußeren Lippen mit ein, die Klitoris, für die wir das schöne deutsche Wort Kitzler haben, Schwellkörper, den Harnröhrenausgang und den Scheideneingang. Während der Begriff Vulva für die äußeren Geschlechtsorgane steht, bezeichnen die Begriffe Scheide beziehungsweise Vagina ein inneres Geschlechtsorgan. Unter den inneren Geschlechtsorganen versteht man alle nicht sichtbaren Teile der Genitalien: die Scheide/Vagina, die Gebärmutter, die Eileiter und die Eierstöcke. Wenn also kleinen Mädchen gesagt wird, sie hätten eine Scheide, so ist das nicht falsch, aber sehr unvollständig. Der ihnen durch Selbsterforschung leicht zugängliche Bereich, ihre Vulva, wird ihnen damit vorenthalten – sprachlich, kognitiv und emotional.

Das heißt, im Idealfall sprechen Eltern und Erzieher in Kindertagesstätten oder Krippen mit kleinen Mädchen über die Vulva?

Ja, ich fände es gut, wenn sich die Bezeichnung Vulva durchsetzen könnte. Ich weiß aber, dass vielen Erwachsenen die Benennung der weiblichen Genitalien schwerfällt. Es gibt andererseits im Bereich der Sexualität neben der medizinisch korrekten Sprache immer auch Kinder- oder Privatsprache. Und das ist auch gut so.

Zur Person

Ulrike Schmauch, Jahrgang 1949, war bis 2014 Professorin an der Frankfurt University of Applied Sciences und ist weiterhin in der Aus- und Fortbildung tätig. Ihre aktuellen Arbeitsschwerpunkte sind Körper, Geschlecht und Sexualität in der Sozialen Arbeit, Supervision sozialer Fachkräfte, gleichgeschlechtliche Lebensweisen und Antidiskriminierungsarbeit. Sie ist ehrenamtlich im Vorstand des Hessischen Landesverbandes der pro familia und im Bundesvorstand des Lesben- und Schwulenverbands in Deutschland (lsvd) aktiv.

Bezeichnungen wie da unten erzeugen eine Leerstelle im Selbst- und Körperbild

Begrüßen Sie Spitznamen für die Vulva, wie beispielsweise Muschi oder Möse?

Ja. Im Bereich der Sexualität gibt es immer Worte auf ganz verschiedenen Sprachebenen, und für Kinder ist es wichtig, einfache, angenehme Worte zu finden. Wenn man sich immer überwinden muss, ein Wort auszusprechen und sich jedes Mal dabei schämt, ist das ein Problem. Eltern können einem kleinen Mädchen durchaus erklären: ‚Das richtige Wort dafür ist Vulva. Du kannst aber sagen, was du möchtest und was dir gefällt.’ Manche Familien erfinden eigene Worte. Die Hauptsache ist, es wird nichts verschwiegen, indem von ‚da unten’ geredet wird oder vom Popo, obwohl eigentlich die Vulva gemeint ist.

Was kann es bei Mädchen auslösen, wenn ihr Geschlechtsteil gar nicht, nur schambehaftet oder mit einem Kichern ausgesprochen wird?

Wenn Mädchen erleben, dass Erwachsene das weibliche Genital gar nicht oder falsch benennen, es belächeln oder wie etwas Beschämendes behandeln, hat dies nachweislich tiefgreifende schädliche Auswirkungen auf die weibliche sexuelle Entwicklung. Die psychoanalytische und sexualwissenschaftliche Literatur ist voll von klinischen Berichten darüber. Diese Erfahrung der Mädchen erzeugt eine Leerstelle im Selbst- und Körperbild und enthält ein implizites Onanieverbot. Die Mädchen fühlen ja die Lust an ihrer Vulva, sie berühren sich selbst, erforschen sich. Sie fühlen, dass da eine Klitoris ist, die Lust macht, erleben also einen Widerspruch zwischen eigenem Gefühl und angeblicher Nichtexistenz  beziehungsweise negativer Bewertung. Die Erfahrung dieses Widerspruchs kann bei jungen Mädchen und erwachsenen Frauen zu schuldhaften Konflikten führen, wenn sie die Selbstbefriedigung und Partnersexualität genießen wollen. Viele verhalten sich in sexuellen Begegnungen passiv, geben die Verantwortung an ihren Partner ab und sagen: ,Der Mann muss rausfinden, was mir Lust bereitet.‘

Warum tun sich denn viele Erzieherinnen im Kindergarten so schwer damit, Worte für das weibliche Geschlecht zu finden oder ganz offen über die Vulva zu sprechen?

An einem sozialen Ort wie einer Kindertagesstätte über Vulva, Scheide und Klitoris zu sprechen heißt, über weibliche Lust zu sprechen, über Sexualität, Selbstbefriedigung und weibliche Autonomie. Das kann bei denen, die in der Kita arbeiten – und das sind ganz überwiegend weibliche pädagogische Fachkräfte –  konflikthafte Gefühle, Scham und Ängste auslösen. Dies konnte ich in Fortbildung und Supervision immer wieder wahrnehmen. Die Frauen vermeiden es eher, im beruflichen Alltag, gegenüber Kindern, Eltern oder Kolleginnen, über kindliche Sexualität im Allgemeinen und die Vulva der kleinen Mädchen im Besonderen zu sprechen. Wenn sie deutlich und bejahend darüber reden würden, so hätten sie dabei das Gefühl, als sprächen sie untergründig zugleich auch über sich selbst, über etwas zu Intimes, über etwas, was sie entblößt und verletzlich macht. Deshalb ist die Vermeidung des Themas auf Seiten der Erzieherinnen, vielleicht auch bei Müttern, oft eine Art Selbstschutz aus einer Unsicherheit heraus. Für männliche Erzieher stellt sich die Situation wieder anders, was jetzt aus zeitlichen Gründen zu weit führen würde. Für männliche wie weibliche Erziehende gilt aber, dass solche typischen Unsicherheiten in sexualpädagogischen Team-Fortbildungen gut überwindbar sind und sich zu einer fachlichen Sicherheit im Umgang mit sexuellen Themen in der Einrichtung entwickeln können.

Doktorspiele sind Teil der sexuellen Entwicklung

Fällt es deshalb Erzieherinnen leichter, mit Kindern über den Penis zu sprechen als über die Vulva?

Ja, beim Sprechen über den Penis empfinden viele Frauen mehr Distanz, weil sie dabei nicht über sich selbst sprechen müssen. Generell sind die männlichen und weiblichen Geschlechtsorgane in unserer Kultur völlig unterschiedlich besetzt. Die Vulva wird einerseits mit Minderwertigkeit (,Penislosigkeit‘), andererseits mit Schmutz oder Unheimlichkeit, mit gefährlicher oder auch anziehender Rätselhaftigkeit verbunden. Der Penis wird assoziiert mit Macht, aktiv gelebter Sexualität und Potenz, auch mit sexueller Gewalt, andererseits auch mit Verletzlichkeit (,Kastrationsangst‘). Das sind tief verwurzelte kulturelle Bilder, und jede neue Generation von Eltern und von Erziehern muss sich deshalb von Neuem mit kindlicher Sexualität, mit Geschlechterbildern und dem Problem der Sprache auseinandersetzen.

Was raten Sie Eltern und Erziehern im Umgang mit kindlicher Sexualität?

In Kinderkrippen und Kitas sollte die Sexualpädagogik einen genau so wichtigen Platz einnehmen wie Naturerziehung oder sonstige pädagogische Konzepte. Es ist wichtig, dass sie erwachsene Mädchen und Jungen ein gutes Gefühl zu ihrem Geschlechtsorgan vermitteln. Es sollte erlaubt sein, dass sich die Kinder selber anfassen und dabei herausfinden, was sich gut anfühlt. Die Entdeckung der eigenen genitalen Lust ist ein wertvoller Schritt in der Entwicklung von Autonomie. Gleichzeitig lernen die Kinder in diesem Prozess allmählich, dass sexuelle Lust auch etwas mit Intimsphäre, Grenzen und Rücksichtnahme zu tun hat.

Gehören „Doktorspiele“ dazu?

Ja, die gehören zur kindlichen Sexualentwicklung. Es sollte in Kindertagesstätten akzeptiert und durch Rückzugsorte ermöglicht werden, wenn sich Kinder nicht nur selbst, sondern auch gegenseitig berühren und erforschen. Wie weit das gehen darf, können Erziehende den Kindern mit einfachen Regeln mitteilen –wie etwa ,nichts reinstecken‘ oder ,nichts gegen den Willen eines Kindes‘. Die Fachkräfte halten die Balance zwischen kindlicher Sexualneugier und Kinderschutz, indem sie darauf achten, dass bei ,Doktorspielen‘ zwischen den Kindern Einvernehmen und keine zu großen Unterschiede bezüglich Alter und körperlicher Kraft bestehen. Wie wichtig es ist, dass Mädchen in Kindheit und Jugend ein positives Verhältnis zu ihren weiblichen Geschlechtsorganen erwerben, zeigt sich an den sehr bedenklichen ‚Schönheits’-Operationen, die immer mehr junge Frauen an ihrer Vulva vornehmen lassen. Bei diesen Eingriffen werden Schamlippen begradigt oder verkleinert, in Angleichung an Bilder von einer angeblich ,normalen Vulva‘, oft von Pornodarstellerinnen. ,Normal‘ ist jedoch, dass Vulvas enorm unterschiedlich sind in Form, Färbung und Größe. Bei den Operationen ist fast von einer Form der ,freiwilligen Beschneidung‘ zu sprechen, erzeugt durch modernisierte stereotype Weiblichkeitsbilder und erhöhten medialen Druck.

 

Dieses Interview ist zuerst bei EDITION F erschienen, einem Online-Magazin für „starke Frauen“. Gegründet wurde das Magazin im Jahr 2014 von Nora-Vanessa Wohlert und Susann Hoffmann. EDITION F, so ihr Wunsch, soll Frauen eine Bühne geben und sie inspirieren, Neues auszuprobieren – nicht nur im Alltag, sondern auch im Job. Zu dem Magazin gehört auch das Projekt Female Future Force, ein digitales Coaching für Frauen.

Nora Burgard-Arp arbeitet seit 2012 als freie Journalistin und Autorin. Sie schreibt u. a. für Zeit Online, Spiegel Online und Meedia und hat im Gabler Verlag das Buch “Co-Economy: Wertschöpfung im digitalen Zeitalter” veröffentlicht. 2014 hat sie das Wissenschaftsportal Anorexie – Heute sind doch alle magersüchtig ins Leben gerufen. Mit diesem Projekt hat sie eine Gegenbewegung zur Darstellung der Magersucht in der Presse gestartet und räumt mit Vorurteilen auf. 2015 war Burgard-Arp mit der Seite für den Grimme Online Award nominiert und Finalistin des Axel Springer Preises für junge Journalisten. Für ihre Reportage “Das gestörte Bild” ist sie außerdem mit dem Reportagepreis für junge Journalistinnen und Journalisten ausgezeichnet worden.