„Die Psychiatrie braucht man nicht zu fürchten“

Constantin Wulff © Philipp Horak

Constantin Wulff © Philipp Horak

Anderthalb Jahre war der Filmemacher Constantin Wulff in der Kinder- und Jugendpsychiatrie am Universitätsklinikum Tulln in Niederösterreich – nicht als Patient, sondern als Regisseur. Sein Dokumentarfilm „Wie die anderen“ war in diesem Sommer auch in deutschen Kinos zu sehen. Uns erzählt er, warum ihm der Film so wichtig ist.

Redaktion: In Ihrer letzten Doku „In die Welt“ porträtierten Sie eine Geburtsklinik. Warum jetzt die Kinder- und Jugendpsychiatrie?

Constantin Wulff: Kaum jemand von uns weiß, was dort eigentlich passiert. Die Bilder, die uns bei dem Wort „Psychiatrie“ in den Sinn kommen, stammen größtenteils aus dem 19. Jahrhundert. Auch das Klischee von Gummizellen und vom Wegsperren ist nach wie vor sehr präsent.

Und das stimmt so nicht?

Als ich die psychiatrische Abteilung der Uniklinik Tulln das erste Mal besuchte, war ich selbst überrascht, wie hell, offen und durchlässig die Station wirkt. Vor der Psychiatrie muss man keine Angst haben. Letztlich ist sie auch nur ein institutioneller Ort, der Menschen, die sich in einer schweren Krise befinden, Hilfe anbietet – und genau das wollte ich zeigen.

Der Fokus liegt also mehr auf der Einrichtung als auf den Patienten?

Natürlich spielen die Kinder und Jugendlichen eine zentrale Rolle. Doch ebenso wichtig ist das Personal, dass in der Psychiatrie arbeitet. Auch den Fallbesprechungen, in denen es um die richtige Diagnose geht, geben wir viel Raum.

Tatsächlich kommen die Ärzte im Film deutlich öfter zu Wort als die Patienten. Ist das Zufall?

Nein, das ist kein Zufall. So habe ich es vor Ort oft erlebt. Das liegt mitunter daran, dass viele Kinder sich verbal oft noch nicht so gut ausdrücken können.

Psychiatrische Diagnosen wirken oft sehr stigmatisierend

Wie Dominik.

Genau. Der Junge ist erst sieben. Wenn ihm etwas nicht gefällt, hört er oft einfach nicht mehr zu, weigert sich, selbst zu laufen, und schreit.

Eine Ausnahme ist die 17-jährige Leah.

Sie war ein echter Glücksfall und ich bin sehr froh, dass sie bereit war, bei dem Filmprojekt mitzumachen. Es war echt beeindruckend, wie gut diese junge Frau ihre Probleme reflektieren konnte.

Haben Sie ein Beispiel?

In einer Szene soll sie mit Hilfe von Gegenständen ihre Gefühle beschreiben. Hammer, verknotetes Knäuel und Peitsche stehen für den Druck von außen. Besonders ihre Eltern erwarten, dass es ihr durch die Therapie bald besser geht. Gleichzeitig hat Leah das Gefühl, dass sie diese Erwartungen nicht erfüllen kann.

Warum Leah in der Klinik ist, erfährt der Zuschauer nicht.

Das wollte ich nicht. Psychiatrische Diagnosen wirken teilweise sehr stigmatisierend und dieses Schubladendenken nach dem Motto „Ah, die nimmt Drogen“, „Ah, der ist schizophren“ wollten wir vermeiden. Um eine Beziehung zu Lea aufzubauen, muss ich als Zuschauer überhaupt nicht wissen, was sie vorher erlebt hat und warum sie hier ist.

Wie fanden die Kinder es eigentlich, anderthalb Jahre lang ständig gefilmt zu werden?

Zuerst war das natürlich aufregend; mit der Zeit haben sie die Kamera jedoch vergessen. Wohl auch, weil wir beim Drehen nichts inszeniert, keine Anweisungen gegeben, sondern ausschließlich beobachtet haben. Beim Klinikpersonal war das übrigens genauso. Es gibt eine Szene, in der zwei Oberärztinnen ihren Chef aufgrund des Personalmangels attackieren und da geht es ziemlich heiß her. Als die beiden den Film sahen, sagten sie: „Was, da wart ihr auch dabei?“

Manchmal ist die Zwangsfixierung das letzte Mittel

Und diese Szene durften Sie zeigen?

Ja, und das war mir auch wichtig. Personalengpässe sind ja nicht nur in Österreich ein Problem. Außerdem hatten wir vorab einen Vertrag mit der Klinik geschlossen, der uns dazu berechtigte, alles, was wir drehen, auch zu benutzen, solange es nicht diffamierend oder verzerrend ist.

In einer Szene wird ein Mädchen zwangsfixiert …

Ja wir haben uns bewusst entschieden, die Szene reinzunehmen. Statt die Zwangsfixierung zu dämonisieren, wollten wir sie in ihrer Ambivalenz zeigen.

Dadurch könnte die Psychiatrie für viele Zuschauer negativ belegt werden.

Die bisherigen Reaktionen haben gezeigt, dass dem nicht so ist. Das Mädchen drohte damit, sich umzubringen. In dieser Situation war die Zwangsfixierung – so bitter es klingen mag – das letzte Mittel, das den Ärzten zur Verfügung stand.

Haben Sie zu den Kindern und Jugendlichen noch Kontakt?

Ja. Und was ich sagen kann ist, dass sie alle von ihrem Aufenthalt in der Psychiatrie profitiert habe – jeweils auf die eine oder andere Weise.