Sportklettern boomt. Immer mehr Menschen hangeln sich in Hallen und an Wänden bunte Griffe hoch. Unter ihnen sind auch Menschen mit Multipler Sklerose, Lernproblemen und sogar Sehbehinderte.
Ob er dieses Mal die rote oder die grüne Sporthose aus dem Schrank gezogen hat, weiß Christoph Pohlmann nicht. Aber der Knoten an seinem Klettergurt sitzt auf jeden Fall. Geübt fühlt der 38-Jährige das Seil entlang, kontrolliert danach das Sicherungsgerät seiner Partnerin und überprüft den Karabiner. Dann steigt Pohlmann in die senkrechte Route in der Kletterhalle des Deutschen Alpenvereins in Mainz ein. Der 38-Jährige ist sehbehindert, ebenso wie seine Kletterpartnerin.
Claudia Müller verfolgt deshalb auch nicht mit den Augen, wie Pohlmann die 13 Meter hohe Wand hinaufsteigt. Sie spürt an der Straffheit des Seils, wann sie es einholen muss. Als Pohlmann oben ist, ruft er – wie für alle Kletterer üblich – hinunter: „Mach zu!“ Müller antwortet: „Ist zu.“ Er fordert: „Und ab.“ Pohlmann rauscht herunter. Die beiden tauschen die Rollen, nun klettert die 31-Jährige hinauf. Ihren Pullover bindet sie vorher an Blindenführhund „Jazz“ fest, damit sie das Kleidungsstück nach dem Ablassen wieder findet.
Die beiden, die ein bis zweimal pro Woche in die Kletterhalle gehen, sind an Retinitis Pigmentosa erkrankt. Dabei kommt es zu einem Absterben der Netzhaut; erste Probleme tauchen meist im Jugendalter oder in den mittleren Lebensjahren auf. Etwa 30.000 bis 40.000 Menschen in Deutschland haben laut Blindenverbänden diese erbliche Augenkrankheit.
Höhenangst haben die beiden nicht
Weil Pohlmann und Müller die Farben der Klettergriffe nicht oder kaum sehen, benutzen sie alle roten, gelben, grünen, blauen, weißen, schwarzen, pinken und gepunkteten Griffe durcheinander. „Wir klettern bunt“, sagt Müller. Oft wird ihr das aber zu langweilig, dann geht sie mit Hilfe von Zurufen anderer Kletterer eine farblich markierte Route hoch. „Ich brauche die Herausforderung, ich will weiterkommen“, sagt sie. Ihre Judo-Karriere beendete sie nur, um eine Ausbildung zur Physiotherapeutin zu machen.
Angst vor der Höhe scheinen die beiden nicht zu kennen, im Gegenteil. „Oben bekomme ich das Gefühl einer gewissen Freiheit, spüre, wie die Luft um die Nase kitzelt“, sagt Müller. Pohlmann versucht, nicht mehr die großen Henkel-Griffe zu benutzen, sondern die kleineren für nur ein Fingerglied. „Ich möchte auch einen Überhang ganz klettern, da habe ich momentan aber noch nicht die Kraft dazu“, sagt er. Als Mitarbeiter im öffentlichen Dienst sitzt er sonst meist am Schreibtisch.
Einige der anderen Kletterer in Mainz überlegen sich immer wieder, wie sie den beiden Sehbehinderten das Klettern erleichtern können. Zu den Ideen gehören: Magnete zum leichteren Auffinden bestimmter Griffe, Live-Anleitung per Headset oder Spezialknoten zum Ausklinken. Meistens aber klettern Pohlmann und Müller einfach irgendwo in der 600 Quadratmeter großen Halle an einer Wand.
„Wenn man nicht weiß, dass sie sehbehindert sind, würde man denken, das sind Neulinge“, meint Holger Rech. Sie suchten nämlich immer etwas länger mit dem Fuß nach einem Tritt. Viel mehr als die beiden falle eigentlich „Jazz“ auf. Um ihn bilde sich ab und an eine Traube. „Die Jungs, die sonst immer nur hoch und runter rattern, sammeln sich dann auf einmal um den Hund“, sagt der DAV-Wanderleiter.
Beim Klettern geht es nicht um Therapie
Zum Klettern kamen Müller und Pohlmann unabhängig voneinander. Müller hatte es schon in der Schule gemacht und fing im Juli vergangenen Jahres wieder an; Pohlmann machte nur wenige Monate vorher mit seiner Frau einen Kletterkurs in Mainz. Seine Frau geht nun eher Bouldern, das ist Klettern auf Absprunghöhe. Doch beim Bouldern könne er schlecht abschätzen, wo der Boden sei, sagt er. „Beim Klettern ist der Kopf freier.“
Die beiden Mainzer haben zwar selbstständig den Weg in die Kletterhalle gefunden – doch liegen sie damit voll im Trend, wie der Ressortleiter Sportentwicklung des Deutschen Alpenvereins erklärt. Zum einen habe sich Klettern allgemein zum Breitensport entwickelt, sagt Stefan Winter. „Außerdem nimmt die Zahl der Kletterer mit Behinderung stark zu.“ Häufig würden die Menschen mit Behinderung von ihren Sozialpädagogen oder Heilpädagogen, die in der Freizeit klettern, auf die Möglichkeit aufmerksam gemacht.
Nach DAV-Angaben gibt es in Deutschland spezielle Kletter-Gruppen etwa für Menschen mit Multipler Sklerose, andere für kognitiv eingeschränkte Menschen oder für Lernbehinderte. Manchmal kommen auch Menschen mit verschiedenen Behinderungen zusammen – oder sie kletterten einfach so mit, wie in Mainz. „Behinderte Menschen sollen kommen und sich austoben, sich überwinden, Spaß haben – wie der Rest auch“, sagt Winter. Es gehe nicht um Therapie.
Im Sommer wollen Pohlmann und Müller raus an den Felsen. Die Physiotherapeutin freut sich auf die frische Luft und die Abwechslung. „Jazz“ sei nicht ausgebildet dazu, mit ihr Joggen zu gehen. Also blieben die Felswände zum Klettern in der Pfalz. „Ich bin ein Frischluftmensch.“ Der 38-Jährige meint, dass es wahrscheinlich schwierig werde, die Tritte zu finden, weil sich das wohl nicht so einfach erspüren lasse. „Ich bin super gespannt“, ergänzt er.
Von Doreen Fiedler (dpa)