Mit Fischstäbchen zu neuen Ufern

In „Ommas Glück“ schreibt die Autorin und Journalistin Chantal Louis über das Leben ihrer Großmutter Edeltraut in einer Demenz-WG. Ein einfühlsames Buch, das der Krankheit ein wenig von ihrem Schrecken nimmt.

© Kiepenheuer & Witsch

Allein die Vorstellung, in so etwas wie eine Wohngemeinschaft zu ziehen, hätte ihre Oma schrecklich gefunden. „Meine Mutter und ich haben es für sie entschieden“, schreibt Chantal Louis in ihrem Buch. Denn zu dem Zeitpunkt war die 83-jährige Oma Edeltraut schon dement und nicht mehr entscheidungsfähig. Aber die Enkelin ist sich sicher: „Es war eine gute Entscheidung.“

In „Ommas Glück. Das Leben meiner Großmutter in ihrer Demenz-WG“ erzählt die Autorin, was die Erkrankung bedeutet – für die Betroffenen wie für die Familie –, und auch davon, was gute Pflege alles bewirkt. Es ist ein Buch, das Betroffenen ein Stück ihrer Angst nimmt und tatsächlich Mut machen kann.

Auch jenseits des Tellers

„Oma, es gibt Fischstäbchen. Die magst du doch so gern!“ „Oh ja, dat stimmt.“ Die vielen Dialoge in ruhrdeutscher Mundart sowie die kurzen, prägnanten Sätze geben dem Buch Tempo und machen die Szenen lebendig. Chantal Louis ist Journalistin und das merkt man: Beim Lesen ist es manchmal, als säße man in der WG-Küche tatsächlich mit am Tisch, die Gabel im Fischstäbchen.

Stück für Stück – auch jenseits des Tellers – erfährt der Leser, wie sich das Leben in der WG organisiert. Neben Edeltraut lernt er die stille und gutmütige Mitbewohnerin Marianne und die etwas mürrische Edith kennen – sowie deren Angehörige. So viel anders als in einer normalen WG ist es hier auch nicht: Was wird eingekauft? Reicht das Geld für die Bepflanzung des Balkons? Wohin geht’s beim nächsten Ausflug? Nur sind es nun nicht mehr die Bewohner, die die Entscheidung treffen, sondern Angehörige und Pfleger.

Noch mehr Rat

Im Anhang des Buches beschäftigt sich die Autorin mit der rechtlichen Situation von Demenz-WGs. In Form eines Ratgebers erklärt sie, wie sich solche Wohngemeinschaften finanzieren, was bei der Gründung zu beachten ist, oder wie man die richtige für seinen Angehörigen findet.

Mit dem Kotelett geredet

Obwohl die Demenz der Oma immer weiter fortschreitet, bleibt der Ton der Erzählung locker. Für Autorin Louis ist die Krankheit etwas, mit dem man eben umgeht. Sie ist kein Schreckgespenst. Im Fokus steht nicht die Demenz, sondern die „Omma“ – mit all ihren liebenswerten Eigenheiten und Schrulligkeiten.

Edeltraut redet gerne und viel. Mit den Mitbewohnerinnen, mit sich selbst oder mit ihrem Essen: „Und da hab ich zu dem zweiten Kotelett gesacht: ‘Eigentlich wollt ich dich ja für morgen verwahren. Aber Scheiß, hab ich gesacht, heut biss frisch!’ Und dann hab ich es mir auch noch reingehauen.“ Guten Appetit möchte man wünschen.

Schnell wird klar: Das beinahe familiäre Miteinander in der Demenz-WG ermöglicht einen anderen, irgendwie entspannten Umgang mit der Krankheit. Wird die Oma mal aufbrausend oder gar aggressiv, kommt niemand auf die Idee, sie mit Neuroleptika ruhigzustellen, sondern der Pfleger – auf eine Pflegefachkraft kommen hier nur drei Patienten! – nimmt sich Zeit, den Grund ihrer schlechten Stimmung herauszufinden.

Es muss eine andere Lösung her

Der Kontrast zur Normalität im Umgang mit Demenzkranken wird umso deutlicher, wenn Chantal Louis die Stationen der großmütterlichen Odyssee vom Zeitpunkt der Diagnose Demenz bis zum Einzug in die WG schildert. Die erste Station ist ein Seniorenheim in der Nähe von Kiel. Hier lebt sie noch weitestgehend selbstständig. Eine „mandarinendicke“ Entzündung am Zeh bringt sie jedoch ins Krankenhaus.

In der Klinik sind die Ärzte jedoch mit der dementen Patientin und ihrem Temperament überfordert. Sie verlegen sie in die psychiatrische Abteilung und verabreichen ihr eine Reihe hochdosierter Beruhigungsmittel. Als Chantal Louis ihre Großmutter besucht, ist sie schockiert. Die Oma zittert und ist verwirrter als je zuvor. Nach einem Sturz landet Edeltraut in der Geriatrie und spätestens jetzt ist für die Familie klar: Es muss eine andere Lösung her. Die Demenz-WG. 

Verwirrende Zeiten

Eine feste Chronologie gibt es in dem Buch nicht. Mal befinden wir uns beim Abendbrot in der Demenz-WG im Jahr 2014. Dann wieder im Kieler Seniorenheim. Ein Kapitel später geht die Reise in die Kindheit der Oma oder die Autorin erzählt davon, wie Edeltraut ihren Mann kennenlernte.

Die zahlreichen Jahres- und Ortswechsel sind zwar etwas verwirrend, sie machen das Buch aber nicht weniger lesenswert. Tatsächlich spiegelt die sprunghafte Dramaturgie auch das „Durcheinander“ im Kopf der Oma wider. Ihre Persönlichkeit und ihr lebhafter Humor bilden bis zur letzten Seite den roten Faden der Erzählung und machen Spaß.

Mit „Ommas Glück“ liefert Chantal Louis mehr als nur ein liebevolles Porträt ihrer Großmutter. Sie vermittelt ohne jedes Pathos, dass es nicht nur richtig, sondern sogar lohnend ist, den Menschen hinter seiner Krankheit nicht aus dem Blick zu verlieren.

Ommas Glück. Das Leben meiner Großmutter in ihrer Demenz-WG ist im Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen und kostet 14,99 Euro.