Mit Poesie gegen Alzheimer

“Weckworte”: Mit Gedichten gegen Demenz. Lars Ruppel, einer der besten Poetry Slammer Deutschlands, ist seit Jahren in Altenheimen unterwegs. 

Lars Ruppel kniet in seinen Turnschuhen nieder. Dann nimmt der 29-Jährige die vor ihm sitzenden Frauen behutsam an den Händen und fängt an zu berlinern: “Hast uns Stulln jeschnitten un Kaffe jekocht un de Töppe rübajeschohm un jewischt un jenäht un jemacht un jedreht, alles mit deine Hände.” Es ist das eher rührselige Gedicht (“Mutters Hände”) des großen Spötters Kurt Tucholsky, mit dem der junge Poetry Slammer im Rüsselsheimer Altenheim das Eis bricht.

Über die Gesichter der Frauen huscht jetzt ein Lächeln. Einigen in der Seniorenresidenz am Ostpark stehen Tränen in den Augen, als sie die Zeilen mitsprechen. Man kann nur erahnen, was für Gefühle durch das Rezitieren des Gedichts bei den Heimbewohnern erzeugt werden, die plötzlich wie verwandelt wirken.

Vergessene Erinnerungen wiederfinden

“Weckworte” heißt das Gedichte-Projekt, mit dem Ruppel verschüttete Erinnerungen wieder wachrufen will. Unter den 14 Seniorinnen – ein Mann hat sich an diesem Vormittag eher zufällig in den Kreis miteingeschlichen – sind viele dement oder depressiv. Gerade Demenzkranken können bekannte Gedichte, ob sie nun von Joachim Ringelnatz, Heinrich Heine oder Joseph von Eichendorff stammen, wohl wieder einen Schlüssel zu verborgenen Welten liefern.

Mit Poesie gegen Alzheimer: Das Konzept kommt aus den USA. 2009 holte Ruppel den Gründer von “Alzpoetry”, den US-Schriftsteller Gary Glazner, nach Marburg. Ruppel, der inzwischen in Berlin lebt, hat die Idee seitdem weiterentwickelt. Jetzt reist er das ganze Jahr durch Deutschland und Europa, um auf Dutzenden von Workshops Pflegepersonal und ehrenamtliche Helfer in Heimen zu schulen.

Der Poetry Slammer, der im vergangenen Jahr auch Deutscher Meister wurde, ist dafür prädestiniert. Wie wenigen anderen gelingt es Ruppel, mit ernsten Gedichten oder von ihm geschriebenem Nonsens-Rap, sein Publikum in wenigen Minuten zu begeistern. Vor jungen Leuten im English Theatre in Frankfurt gibt er den coolen Poetry Rapper – in Altenheimen dagegen den netten Jungen, den jede der alten Damen bestimmt gerne als Enkel hätte.

Körperkontakt darf nicht fehlen

Im Rüsselsheimer Ostpark kommen die Senioren mit einer Gruppe von Schülerinnen zusammen, die alle mal einen Sozialberuf ausüben wollen. Ruppel hat zuvor die 16- bis 17-jährigen Mädchen auf das Treffen vorbereitet. Immer alle direkt ansprechen und mit Handschlag vorstellen, empfiehlt er.

Körperkontakt hält der Poetry Slammer im Umgang mit Menschen, denen im Heim oft die Emotionen abgehen, für sehr wichtig. Bei der nicht einfachen Begegnung mit der Seniorengruppe beweisen dann einige der Schülerinnen Einfühlungsvermögen und Spontanität. Andere wiederum können sich noch nicht so richtig auf dieses Experiment einlassen.

Die Schülerinnen sollen künftig auch mit eigenen “Weckworten” arbeiten. Das ist die Idee des Projekts. Die Messlatte, die Ruppel legt, ist natürlich hoch. Doch der preisgekrönte Slammer hält den Ball bewusst flach: “Die Schüler sollen eine Idee bekommen, was mit Gedichten möglich ist”, sagt er. Ob das Projekt nun Demenzkranken therapeutisch hilft oder nicht, das findet der 29-Jährige auch nicht so wichtig. Es gehe grundsätzlich darum, auch die Kultur in der Alten- und Krankenpflege zu verankern.

Generationen verbinden

Organisiert wird der Rüsselsheimer Workshop von der Stiftung Lesen in Mainz mit Unterstützung der Stiftung der Verlagsgruppe Rhein Main. “Das ist ein sehr wichtiges Projekt, weil es um den Brückenschlag zwischen den Generationen geht”, sagt Wolf Borchers von der Stiftung Lesen. Ähnliche Projekte laufen noch an mehreren Schulen. Dabei geht es oft einfach auch ums Vorlesen von Geschichten in Seniorenheimen.

“Wann kommen Sie wieder?”, fragt die Seniorin Gerlinde Fischer erwartungsvoll, als Ruppel seinen knapp einstündigen Gedichte-Workshop im Heim beendet. Die vitale und geistig fitte Dame ist 90 Jahre und vier Monate alt. Man sieht es ihr überhaupt nicht an. “Du bist erst alt, wenn du den Mut verlierst und dich für nichts mehr interessierst”, gibt sie allen zum Schluss mit auf den Weg.

Von Thomas Maier (dpa)