Mehrere Tausend Krankheiten sind so selten, dass auch viele Ärzte ihren Namen nicht kennen. Entsprechend steinig und quälend langwierig ist für die Patienten der Weg bis zur Diagnose – wenn es überhaupt einen Namen für die Beschwerden gibt.
Sie sind sehr viele und doch oft allein: Rund vier Millionen Menschen in Deutschland haben eine seltene Erkrankung – ein Krankheitsbild, von dem unter 10 000 Menschen maximal 5 betroffen sind, so die Definition in der Europäischen Union (EU). Die Mukoviszidose etwa, bei der zäher Schleim vor allem die Lunge verklebt, ist mit rund 8000 Patienten in Deutschland eine der häufigeren. Von Progerie, die Kinder binnen weniger Jahre zu Greisen altern lässt, sind weltweit nur gut hundert Fälle bekannt. Viele der Krankheiten begleiten die Betroffenen ein Leben lang. Bei vier von fünf liegt die Ursache in den Genen. Heilbar sind die wenigsten.
„Die Bandbreite bei den seltenen Erkrankungen ist enorm groß“, sagt Professor Olaf Rieß, Direktor des Instituts für Medizinische Genetik und Sprecher des Zentrums für Seltene Erkrankungen an der Universität Tübingen. Das Zentrum wurde 2010 als Erstes seiner Art in Deutschland gegründet. „Vorrangige Aufgabe war es, das vorhandene Fachwissen zu organisieren und Zentren aufzubauen, in denen Spezialisten der verschiedenen Fachrichtungen zusammenarbeiten“, erläutert Rieß.
Die Symptome sind oft unspezifisch
Beim Williams-Beuren-Syndrom zum Beispiel kann der Verlust von genetischem Material unter anderem zu Herzfehlern, unterschiedlich ausgeprägten kognitiven Beeinträchtigungen, Wachstumsverzögerungen und einer besonderen Gesichtsform führen. Dass sämtliche Beschwerden auf eine Erkrankung zurückgehen, wird oft erst spät erkannt: Fachärzte konzentrieren sich bei der Suche nach der Ursache naturgemäß zunächst auf ihre Disziplin. Doch die seltenen Erkrankungen sprengen diesen Rahmen. „Viele Patienten werden zwar vom Hausarzt zum Facharzt überwiesen, aber dort kommen sie dann nicht weiter“, berichtet Rieß. Die Folge: Sie versuchen es beim nächsten Facharzt, oft beginnt eine jahrelange Odyssee.
Die ersten Anzeichen seltener Erkrankungen können zudem sehr unspezifisch sein: Wenn ein Baby nicht krabbelt, wenn die ersten Worte auf sich warten lassen, kann das ein Anzeichen einer krankheitsbedingten Entwicklungsverzögerung sein – muss es aber nicht. „Kinderärzte haben häufig Eltern in der Praxis, bei denen sich die Sorgen um die Entwicklung ihrer Kinder schließlich als unbegründet herausstellen. Zu erkennen, wann dann doch gehandelt werden muss, ist oft schwierig“, sagt Jörg Richstein. Er ist Vorsitzender der Interessengemeinschaft Fragiles-X. Das ist eine seltene Erkrankung, die durch einen Defekt auf dem X-Chromosom hervorgerufen wird und an der sein Sohn leidet.
Tag der Seltenen Erkrankungen
Immer am letzten Tag im Februar findet seit 2007 der Tag der Seltenen Erkrankungen statt – in diesem Jahr also am 29. Februar und damit sehr symbolisch an einem besonders seltenen Tag. Bundesweit finden unter dem Motto „Gebt den Seltenen Eure Stimme!“ Veranstaltungen statt.
Dass ihr Kind unruhiger war als andere Babys, mit neuen Eindrücken und fremder Umgebung schlecht zurechtkam, fiel Richstein und seiner Frau schon früh auf. Die Diagnose „Fragiles-X Syndrom“ erhielten sie, als ihr Sohn ein Jahr alt war – „das war vergleichsweise früh, weil wir einen sehr aufmerksamen Kinderarzt hatten“, erzählt er. Die Symptome zu einem Krankheitsbild zusammenzufügen, ist nämlich auch beim Fragilen-X Syndrom schwierig: „Bei den betroffenen Kindern fehlen wesentliche Entwicklungsschritte wie Sitzen, Krabbeln, Laufen, auch die Sprachentwicklung setzt spät oder gar nicht ein. Sie haben Probleme mit der Feinmotorik, zeigen aber auch Aufmerksamkeitsdefizite und Hyperaktivität. Die Lern- und geistige Behinderung wird erst spät offensichtlich“, erläutert Richstein.
Eine Diagnose bedeutet in vielen Fällen Gewissheit, dass die Erkrankung nicht heilbar ist – und sei dennoch enorm wichtig, sagt Richstein: „Wenn die Beschwerden einen Namen haben, kann man gezielt nach Behandlungsmöglichkeiten suchen.“ Bei Krankheiten, die vererbt werden, spielt noch ein zweiter Aspekt eine Rolle: „Eltern können sich dann vor einer weiteren Schwangerschaft gezielt beraten lassen.“ Moderne Verfahren erleichtern die Identifizierung von Gendefekten, werden aber in vielen Fällen nicht von den Krankenkassen bezahlt.
Bei seltenen Erkrankungen ist Selbsthilfe enorm wichtig
Die Zentren für Seltene Erkrankungen sind Ansprechpartner sowohl in Fragen der Diagnose als auch der Behandlung. Sie sind jeweils auf bestimmte Krankheitsbilder spezialisiert. Den Kontakt muss der behandelnde Arzt herstellen: Er wendet sich an den sogenannten Ärztelotsen des Zentrums und schildert die Beschwerden. „Wir merken an der wachsenden Zahl der Anfragen, wie wichtig die Zentren sind“, sagt Rieß. Betroffene und Spezialisten zueinander zu bringen, ist auch das Ziel des Projekts „se-atlas“: In einer Datenbank werden Informationen über Behandlungsmöglichkeiten gesammelt. Die Webseite zeigt an, welche seltenen Erkrankungen wo behandelt werden. „Für Deutschland haben wir mittlerweile eine gute Datenbasis. Sie soll nun noch um Informationen über Spezialisten im europäischen Ausland ergänzt werden“, sagt Holger Storf, Leiter des Projekts, das am Universitätsklinikum in Frankfurt am Main angesiedelt ist.
Neben den Kontaktdaten von Kliniken und Ärzten nennt der Versorgungsatlas auch Selbsthilfe- und Patientenorganisationen: „Gerade wenn es, wie bei seltenen Erkrankungen, so wenige Betroffene gibt, ist die Selbsthilfe enorm wichtig“, ist die Erfahrung, die Richstein gemacht hat. Um Unterstützung im Alltag gehe es dabei ebenso wie um Erfahrungsaustausch. „Die Selbsthilfegruppen haben oft auch sehr großes Wissen über Behandlungsmöglichkeiten“, hat Holger Storf beim Aufbau des „se-atlas“ festgestellt.
Um Ressourcen und Know-how der vielen Selbsthilfegruppen zu bündeln, wurde 2004 die Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen gegründet. Sie vernetzt mehr als 120 Organisationen und bietet mit einer Betroffenen- und Angehörigenberatung die einzige zentrale Anlaufstelle in Deutschland.
Von Eva Dignös (dpa)