„Glückwunsch, du wirst transplantiert“

Sarah Schönhoff (26 Jahre) sitzt in einem Patientenzimmer des Deutschen Herzzentrums in Berlin. Ihr wurde in einer 19 stündigen Operation Lunge und Leber eines Organspenders eingesetzt. © dpa

Im Sommer 2012 kochte der erste deutsche Organspende-Skandal hoch. Er zog weite Kreise, gleich mehrere Kliniken hatten Patientenakten manipuliert. Die Folgen aber spüren oft nur die Menschen hautnah, die ein Organ zum Überleben brauchen – und manchmal sind es sogar zwei.

Rente mit 22. Sarah Schönhoff erinnert sich gut an das Antragsformular. Und wie schwer es ihr fiel, diesen Brief abzuschicken. Es war wie ein Abschied auf Raten. Vom Alltag und vom Start ins eigene Leben, das doch gerade erst begonnen hatte. „Ich hab was mit der Lunge“, sagt sie all jenen, die nicht wissen, was Mukoviszidose ist.

587 Tage verbringt Sarah Schönhoff nach diesem Brief im Krankenhaus. Dann rettet ihr eine doppelte Organtransplantation das Leben, Lunge und Leber. Es war mehr als knapp. Denn seit vor rund fünf Jahren der erste Organspendeskandal in Göttingen aufflog, geht die Zahl der Spender in Deutschland immer weiter zurück. Das bedeutet auch, dass es weniger Überlebensgeschichten gibt.

Mit 14 fängt Schönhoff an, im Internet nach Mukoviszidose zu googeln

Vielleicht 14, schätzen die Ärzte am Anfang. 14 Lebensjahre für ein kleines Mädchen, das 1990 in Mecklenburg-Vorpommern zur Welt kommt. Es ist das Jahr der deutschen Einheit, verbunden mit vielen Hoffnungen im Osten. Sarah Schönhoffs Heimatstädtchen Mirow liegt inmitten einer Landschaft aus lieblichen Seen und guter Luft, nicht weit von der Müritz entfernt. Die Wende lässt die Zahl der Ferienhäuschen explodieren.

Doch Mukoviszidose ist ein tückischer, angeborener Gendefekt, mit dem jedes Jahr rund 200 Kinder in Deutschland zur Welt kommen. Die Mecklenburger Luft mag noch so gut sein, die Lungen verkleben trotzdem und werden anfällig für schwere Infektionen. Erst Bronchitis, dann Lungenentzündung – bis es irgendwann nicht mehr ohne Sauerstoffgerät geht. Am Ende bleibt oft nur eine Transplantation. Die Eltern bekommen diese Diagnose, als Sarah ein Kleinkind ist. Im Teenageralter gibt es schon bessere Medikamente.

Mit 14 fängt Sarah Schönhoff an, im Internet nach Mukoviszidose zu surfen. Sie versteht von allein, dass ihr Leben anders sein wird. Kürzer. „Ich habe mir gesagt, dass man auch vom Bus überfahren werden kann“, erinnert sie sich. „Ich wollte einfach nicht dran denken.“

Sie legt ihre Mittlere Reife als Jahrgangsbeste ab, obwohl sie ein Jahr ihrer Schulzeit im Krankenhaus verbringt – wenn sie alle Fehlzeiten zusammenzählt. Sie zieht nach Berlin, macht eine Verwaltungsausbildung bei der Bundespolizei, wird übernommen. An ihrem 20. Geburtstag arbeitet Sarah Schönhoff in Potsdam. Das Leben kann beginnen. Doch das währt nicht lange unbeschwert.

Nun mit 26 Jahren sitzt sie in einem Krankenhausbett des Deutschen Herzzentrums Berlin. Routinekontrolle nach einer doppelten Organtransplantation. Sie muss immer noch einen Mundschutz tragen, Infektionsgefahr. Eine Minion-Stoffpuppe mit Latzhose und dicker Brille lockert die sterile Atmosphäre auf. Sie mag diese Comic-Figuren. Aus dem Fenster sieht sie manchmal, wie andere Patienten vor der Haustür rauchen. „Denen müssten die Finger abfaulen“, sagt sie plötzlich heftig. Sie versteht nicht, wie sich Menschen freiwillig ihre Gesundheit ruinieren können, die Lunge vor allem.

Die Vergabestelle Eurotransplant entscheidet, wer ein Organ bekommt

Ihre Krankheit ist unheilbar. „Mukos“ nennen sich viele, die damit leben. Oftmals können heute Medikamente und Therapien auch ohne Transplantation den Krankheitsverlauf deutlich bremsen. Je nach Gendefekt äußert sich die Mukoviszidose jedoch unterschiedlich schwer.

Manchmal, wenn Sarah Schönhoff auf ihrem Minion-Kissen in der Klinik liegt, fragt sie sich, wer ihr diese zweite Chance geschenkt hat ­–­ die neue Lunge und die Leber. War der Organspender ein Mann oder eine Frau? Dick oder dünn? „Wahrscheinlich jung“, sagt sie. Sicher ein Unfall. Doch was für ein Leben lag davor? Sie wird es nie erfahren. Ob ein gespendetes Organ zu einem todkranken Menschen passt, entscheidet die Vergabestelle Eurotransplant in den Niederlanden. Von wem? Es ist gesetzlich verboten, dass der Empfänger das weiß.

Im Deutschen Herzzentrum Berlin erinnert sich Herz- und Gefäßchirurg Christoph Knosalla an die Dramatik im Winter vor einem Jahr. Sarah Schönhoffs Lungenleistung verschlechtert sich drastisch. Die junge Frau wird so schwach, dass sich die Muskeln zurückbilden und sie sich kaum noch allein bewegen kann. Als Notlösung wird sie an eine Maschine angeschlossen. Die übernimmt die Atemfunktion der Lunge.

„Eine Transplantation war die einzige Möglichkeit, ihr Leben zu retten“, sagt Knosalla. Eine neue Lunge allein hätte aber noch nichts genutzt. Mukoviszidose greift auch andere Organe an. „Es drohte auch akutes Leberversagen, das kann man nicht überleben“, ergänzt der Arzt.

Auf der Warteliste bei Eurotransplant rückt Sarah Schönhoff ganz nach oben. Die Kriterien dort lauten grob: Ohne Spenderorgan wird ein Patient in naher Zukunft sterben. Bekommt er eines, wird er mit hoher Wahrscheinlichkeit längere Zeit überleben. Für Patientin Schönhoff liegt die Latte unter dieser Maßgabe höher als bei anderen – ohne Spenderleber keine Spenderlunge. Solche Doppel-Transplantationen aber sind selten. Nur zwei Mal wurden beide Organe in Deutschland 2016 gemeinsam verpflanzt, 2015 waren es vier Doppel-Ops.

Transplantationsprogramme werden neu strukturiert

Das liegt auch an einem Drama, das sich still in der Statistik der Deutschen Stiftung Organtransplantation spiegelt. 857 Organspender gab es im vergangenen Jahr in Deutschland, mehr als 400 weniger als 2010. Es ist nicht zufällig der niedrigste Wert seit 2012. In jenem Jahr wurden an der Uniklinik Göttingen die ersten Manipulationen bekannt, die das Vertrauen in die deutsche Transplantationsmedizin nachhaltig erschüttert haben. Ein Arzt machte seine Patienten in Klinikakten kränker als sie waren, damit sie auf den Wartelisten von Eurotransplant weiter nach oben rücken. Er war kein einzelnes schwarzes Schaf. Noch Ende 2016 weisen Überprüfungen nach, dass andere Kliniken nach Göttingen noch ein oder zwei Jahre an dieser Trickserei festhielten. Erst dann greifen verschärfte Kontrollen.

Auch das Berliner Herzzentrum ist unter den Verdächtigen. Es hat sich 2014 selbst bei der Staatsanwaltschaft angezeigt. Das wirkte wie eine Flucht nach vorn, weil Prüfern für die Jahre 2010 bis 2012 Unregelmäßigkeiten bei Herztransplantationen aufgefallen waren. Die Ermittlungen laufen noch. 2014 hat die Klinikleitung gewechselt. „Wir haben die Prozesse und Abläufe des Transplantationsprogramms neu strukturiert und vollständig transparent gemacht“, betont der neue Ärztliche Direktor Volkmar Falk. „Vorgänge“ wie in der Vergangenheit könnten sich nicht wiederholen.

Sarah Schönhoff weiß nur: Ohne die doppelte Organspende wäre sie aus ihrem Dämmerzustand auf der Intensivstation nicht mehr aufgewacht. Sie erinnert sich aus dieser Zeit vage an den Satz „Glückwunsch, du wirst transplantiert.“ Sie hielt es für einen Traum. Dass es Spitz auf Knopf stand, erfährt sie erst später. Eine Infektion hatte sie so geschwächt, dass die Ärzte sie bei Eurotransplant wieder abmelden mussten. Das hieß: Keine Chance auf ein Spenderorgan. Erst als die Entzündung abklingt, kommt sie wieder auf die Dringlichkeitsliste. Genau zu diesem Zeitpunkt gibt es einen passenden Spender für beide Organe.

Nach der Operation braucht Sarah Schönhoff anfangs einen Rollator, um sich zu bewegen. Mit 26. Ihre Muskeln müssen sich wieder aufbauen. Sie lernt ganz langsam, nicht mehr so flach zu atmen. Sie freut sich auf Alltägliches – einkaufen gehen oder einen Besuch im Möbelhaus.

Mit der Sauerstoffflasche zur Fusion

Die ganzen langen Monate, als sie im Krankenhaus lag, hat sie ihre Wohnung behalten und Miete gezahlt. Sie wollte einen Ort, an den sie zurückkehren kann, selbstständig leben. Noch geht es nicht ohne die Fürsorge der Eltern – aber bald. Die Wohnung liegt nur zwei Straßen vom Elternhaus entfernt. Betütelt werden von morgens bis abends, das ist nicht Sarah Schönhoffs Ding. Mitleid erst recht nicht.

Sie ist dankbar, dass es ihre Familie gibt. Viele Freunde sind nicht geblieben. Sie sagt das nicht vorwurfsvoll. Die Welten haben sich schon auseinanderentwickelt, als nichts mehr ohne Sauerstoffgerät ging. Wie hätte das ausgesehen, in der Disco oder im Schwimmbad? Und immer diese Rechnerei. Wie lange halten die Reserven im Tank? Einmal ist sie mit ihrer Sauerstoffflasche zum Fusion Musikfestival ins nahe Lärz gefahren – ein jährliches Happening junger Leute. Der Kassierer war so perplex, dass er von ihr keinen Eintritt nahm.

Das Leben als „Muko“ – es ist anders. Bei Alltagsgesprächen ihrer Freunde hat Sarah Schönhoff oft gedacht: Eure Probleme hätt’ ich gern. Sie hat es nie gesagt. Wer weiß schon, was Mukoviszidose heißt, wenn in Deutschland 8000 Kinder, Teenager und junge Erwachsene damit leben? Doch „Mukos“ untereinander – sie verstehen sich oft blind.

Transplantationschirurg Knosalla weiß, dass solche Patienten anders ticken. „Sie müssen durch viele Täler und Krisen gehen“, sagt er. Viele entwickelten eine große Stärke und Disziplin, die Herausforderungen dieser Krankheit anzunehmen. Denn es geht nicht nur um die Atemwege. Folgeerkrankungen von Mukoviszidose können Diabetes, Osteoporose und Leberleiden sein. Der Arzt hat es oft mit jungen, charakterstarken Persönlichkeiten zu tun. „Sie denken viel mehr nach, über Sinn und Ziele im Leben.“

19 Stunden lang haben er und Kollegen von der Berliner Charité Sarah Schönhoff bei der Doppel-Transplantation operiert. Das ist eine große Belastung für den Körper. „Aber wir haben generell die gleichen Ergebnisse wie bei der Verpflanzung eines einzelnen Organs. Wahrscheinlich, weil die Patienten oft jünger sind“, sagt Knosalla. Das Abstoßungsrisiko sei bei zwei Organen sogar geringer. Hauptproblem aber blieben Infektionen.

In Deutschland sind Organspenden keine Selbstverständlichkeit

Christoph Knosalla liebt seinen Beruf. Er war Medizinstudent in West-Berlin, als dort 1986 die erste Herztransplantation gelang. „Es ist ein Erlebnis, wenn ein solcher Fortschritt in der eigenen Stadt passiert“, sagt er. Chirurgie interessierte ihn ohnehin. So führte ihn sein Weg ans Herzzentrum. Sein 25-jähriges Dienstjubiläum hat er vor kurzem gefeiert, rund 20 Herzen und Lungen verpflanzt er pro Jahr. Die schönsten Momente seien die, wenn Patienten nach Jahren zur Kontrolle kommen – und es geht ihnen gut. „Für mich ist das ein großes Glück. Und Antrieb“, sagt Knosalla.

Warum Kollegen gleich an mehreren deutschen Kliniken Patientenakten manipuliert haben? Er hat dafür keine Erklärung. Nur eine Anmerkung. „Es ging ganz sicher nicht um Geld.“ Knosalla treibt noch etwas anderes um. Er wünscht sich für Deutschland eine Lösung bei der Organspende wie sie Österreich oder Spanien haben. „Dort sind Transplantationen eine Selbstverständlichkeit, bei uns eher die Ausnahme“, sagt er. Denn in Österreich und Spanien müssen Menschen einer Organspende aktiv widersprechen – sonst ist sie normal. Die Deutschen aber müssen einer Organspende ausdrücklich zustimmen. Doch das macht kaum jemand, der nicht ständig über Leben und Tod nachdenkt. „Das ist kein Vorwurf“, sagt Knosalla. „Das ist einfach zutiefst menschlich.“

Die Zustimmungslösung bedeutet, dass Transplantationsmediziner heute rund ein Fünftel ihrer Patienten sterben sehen. Denn auch Überbrückungslösungen wie Kunstherzen sind oft keine Dauerlösung. Dazu verpflanzen Mediziner heute Spenderorgane, die früher nicht in Frage kamen. Zum Beispiel, weil es eine Gratwanderung ist, einem jungen Menschen das Organ eines Senioren einzusetzen. Auch Organe leben nicht ewig. Ein junger Patient braucht deshalb im Laufe seines Lebens wahrscheinlich eine zweite und dritte Transplantation. Das klingt nach Irrsinn – aber es geht im Moment nicht anders. „Es macht mich traurig. Ich kann meinen Patienten immer weniger anbieten“, bedauert Knosalla.

Mukoviszidose kann Sarah Schönhoffs neue Organe nicht befallen. Doch es gibt ja noch den Rest ihres Körpers. Sie weiß nicht, um wie viel der medizinische Fortschritt und das Schicksal erhöhen werden – auf 40 Jahre vielleicht? Sie möchte darüber nicht nachdenken. Sie will ihre zweite Chance genießen, so lange es geht. Wer sie fragt, wie es ihr geht, bekommt eine kurze Antwort: „Von der Luft her super.“

Von Ulrike von Leszczynski (dpa)