Sie irren durch das Gesundheitssystem auf der Suche nach der richtigen Diagnose und der passenden Behandlung. Menschen mit seltenen Erkrankungen haben es häufig besonders schwer – aber es gibt Hilfe.
An den ersten Krampfanfall seines kleinen Sohnes Miraç erinnert sich Kazim Artikarslan noch genau. „Er bekam keine Luft mehr, wurde blau. Es war ein Samstag, sechs Uhr. Es war der schwerste Tag in meinem Leben“, sagt der 37-Jährige. Fast täglich folgten weitere Krampfanfälle. Schon nach der Geburt war Miraç unterzuckert. Das kommt häufiger vor bei Neugeborenen und verschwindet nach kurzer Zeit, nicht aber bei ihm. Denn Miraç hat eine seltene Erkrankung namens Hyperinsulinismus. Hilfe fand die türkischstämmige Familie beim Magdeburger Kinderarzt Klaus Mohnike. Doch die Suche nach der Diagnose und dem richtigen Arzt war langwierig.
Mohnike leitet das vor drei Jahren gegründete Mitteldeutsche Kompetenznetz Seltene Erkrankungen am Universitätsklinikum Magdeburg. Er ist Experte für Hyperinsulinismus mit seinen verschiedenen Formen und hilft weiteren Patienten mit anderen seltenen Erkrankungen. „Wenn wir in Deutschland von 8000 seltenen Krankheiten sprechen, dann gibt es auch immer irgendwo an einem Ort einen Experten“, sagt der 64-jährige Mediziner. Als selten gilt eine Erkrankung, wenn weniger als 5 von 10.000 Menschen von ihr betroffen sind. Die Patienten und die Experten zusammenzubringen, sei Aufgabe des Kompetenznetzes.
Nicht alle die kommen, haben eine seltene Erkrankung
An entscheidender Position sitzt Katharina Schubert. Die 31-jährige Ärztin ist Lotsin des Kompetenznetzes. An sie wenden sich Patienten, bei denen Haus- und Fachärzte nicht weiterkommen. „Viele Patienten kommen mit chronischen Beschwerden“, sagt Schubert. Die Bandbreite sei aber sehr groß. „Neulich hat sich ein Patient vorgestellt, der über Wochen einen Schluckauf hatte.“
Wer hat eine seltene Erkrankung und wer nicht? Expertin Schubert kann das meist nach dem ersten Blick auf die eingereichten Unterlagen sagen. „Oft ist schnell klar, dass es sich um einen langjährigen Diabetes handelt oder eine schlecht eingestellte Schilddrüsenunterfunktion.“ Bei Fällen, die nicht so klar sind, werden weitere Untersuchungen empfohlen. Wenn die Meinung von vielen Spezialisten nötig ist, gibt es eine Konferenz: Einmal im Monat treffen sich mehrere Mediziner, um vier bis sechs Fälle konkret zu besprechen.
Mohnike blickt den zweieinhalbjährigen Miraç an, der auf dem Schoß seines Vaters nach einem dudelnden Handy schaut. Er darf nach einigen Tagen mit Untersuchungen zurück mit seiner Familie nach Bremen. „Die Ursache ist noch immer nicht klar“, sagt der Mediziner über Miraçs Hyperinsulinismus. Viele Betroffene wiesen eine Genmutation auf – eine solche sei im Fall des kleinen Jungen aber nicht gefunden worden. Den Eltern erleichterte das die Entscheidung für ein zweites Kind. Es schlummert gerade im Kinderwagen. „Es hat die Krankheit nicht“, sagt die Mutter sichtlich erleichtert.
Vom Hyperinsulinismus ist eines von 50.000 Neugeborenen betroffen, sagt Kinderarzt Mohnike. Er behandelt etwa 200 Patienten und ist vernetzt mit weiteren Experten etwa in der Universitätsmedizin Greifswald. Am Ende können oft Medikamente oder Operationen helfen. Bei Miraç hat Mohnike die Medikamente besser eingestellt. „Wir haben eine Dosis gefunden, die gut zu wirken scheint. Aber man muss am Ball bleiben.“
Kompetenznetze sind gefragte Anlaufstellen
Am Ende haben die wenigsten Patienten, die das Kompetenznetz kontaktieren, tatsächlich eine seltene Erkrankung. Kollegen in Hannover, die eine ähnliche Anlaufstelle betreiben, haben laut Schubert eine Quote von 10 bis 15 Prozent errechnet. Der Einschätzung schließen sie und Mohnike sich an. Insgesamt steigt die Zahl der Anfragen an das Kompetenznetz. Etwa 300 waren es 2014, ein Jahr darauf schon fast 500.
Für dieses Jahr erwartet Schubert eine weitere Steigerung. An sie wenden sich zunehmend Hausärzte, die bei Patienten nicht weiterkommen – sie vermittelt dann Experten. Schubert selbst behandelt und untersucht die Patienten nicht und verweist in akuten Fällen immer an die behandelnden Ärzte.
Manchmal helfen auch Zeit und Zuhören schon. Besonders bei chronischen Beschwerden ist es für Schubert wichtig, dem Patienten mit seinen Ängsten und Sorgen zuzuhören. Die Zeit dazu hat sie als Lotsin, weil sie nicht zum täglichen Klinikbetrieb gehört. „Unser Ziel ist, jedem zu helfen“, sagt sie.
Von Dörthe Hein (dpa)