Geschätzt gibt es in Deutschland mehr als 800.000 Menschen, die stottern. Viele von ihnen ziehen sich komplett zurück, weil sie Ablehnung fürchten. Einer der Auswege: Therapie-Methoden, bei denen man zunächst zu Hause das Sprechen üben kann – online.
Der britische König George VI. ist einer der wenigen Staatsmänner, von dem eine breite Öffentlichkeit weiß, dass er stotterte. Der Film „The King’s Speech“ aus dem Jahr 2010 erzählt, wie der Monarch mit seinem Therapeuten das Problem in den Griff bekommt. Der kauzige Sprachlehrer besteht darauf, den adeligen Patienten in seinen eigenen bescheidenen Räumen zu behandeln und distanzlos „Bertie“ zu nennen.
Es ist ein schöner Film. Aber Alexander Wolff von Gudenberg glaubt nicht daran, dass eine Stotter-Therapie nur so funktionieren kann: ohne Distanz. Zumindest, wenn man Distanz als tatsächlichen Abstand zwischen Therapeut und Patient begreift.
Die Scham überwinden
Der Institutsleiter der Kasseler Stottertherapie gehört in seiner Branche zu den Vorreitern der Online-Medizin. Therapeut und Patient treffen sich dabei in virtuellen Räumen, verbunden über das Internet. Oder der Therapeut aus Fleisch und Blut wird ganz durch ein Programm ersetzt – das ist die neueste Entwicklung. „Die Online-Methode kann zum Beispiel für Patienten attraktiv sein, die sich für ihr Stottern schämen. Die Eingangshürde ist in diesem Fall niedriger“, sagt von Gudenberg.
Die Scham spielt eine große Rolle beim Stottern. Geschätzt stottern mehr als 800.000 Menschen in Deutschland. Beim Rest der Bevölkerung ist das Wissen über die Sprechstörung aber mitunter überschaubar. „Stottern erscheint ihnen kurios, ja zuweilen lächerlich“, schreibt der Psychologe Johannes von Tiling.
Was auch damit zusammenhängt, dass sich viele Betroffene aus Angst vor Ablehnung zurückziehen. Bekannte Stotterer wie George VI. kann man an zwei Händen abzählen. Rowan Atkinson („Mr. Bean“) gehört dazu, ebenso Bruce Willis. Auch die hauchende Sprechweise von Marilyn Monroe soll Ergebnis eines entsprechenden Trainings gewesen sein.
Alles, was dabei hilft, die Scham zu überwinden, ist daher wichtig. Der Welttag des Stotterns an diesem Sonntag (22.10.) soll für das Thema sensibilisieren. In Bahnhöfen sollen Spots laufen, die gängige Vorurteile über Stotternde aufgreifen. „Wir wollen zeigen: Man sieht niemandem an, ob er stottert oder nicht, es hat nichts mit Umfeld, Bildung oder Herkunft zu tun“, sagt Martina Wiesmann von der Bundesvereinigung Stottern & Selbsthilfe (BVSS). Die Botschaft: „Ich sag’s auf meine Weise!“.
Der Online-Ansatz von von Gudenberg gehört zu den neueren Methoden. Die Patienten werden dabei von einem Therapeuten per Internet-Schalte betreut. „In dem einen virtuellen Raum übt beispielsweise ein Patient eine Rede, in einem anderen ein anderer Telefonieren. Der Therapeut geht von virtuellem Raum zu virtuellen Raum“, erklärt er.
Der Vorteil: Die womöglich niedrigere Einstiegshürde. Und mehr Flexibilität. „Momentan haben wir eine Patientin in Moskau, die unter anderem von einer Therapeutin von uns betreut wird, die nach Brasilien umgezogen ist“, sagt von Gudenberg. Sein erster reiner Online-Patient kam auch aus dem Ausland, ein Bankbeamter aus Kuwait.
Gestottert wird weltweit
Die Televersion wird nach Angaben der Kasseler Stottertherapie nun auch zunehmend von den Kassen bezahlt. Dennoch ist sie bislang noch eine Nische. Reine Online-Patienten hatte von Gudenberg bislang etwa 100. „Es könnte sein, das viele Patienten noch denken, dass bei einer Online-Therapie kein intensiver Austausch mit dem Therapeuten möglich ist“, sagt er. Das könne er aber keinesfalls bestätigen. „Ein Beispiel: Bei unserem kuwaitischen Patienten hätte nicht viel gefehlt, und er hätte unserer Cheftherapeutin einen Heiratsantrag gemacht.“
Der absolute Großteil der Therapien finde immer noch ambulant statt, sagt Wiesmann von der BVSS. Zusätzlich gibt es auch intensiv-stationäre Angebote. „Eine wichtige Hürde ist, Ängste vor dem Stottern zu überwinden. Und das braucht Mut. Der Betroffene muss lernen, sein Stottern zu akzeptieren“, sagt sie. Denn: Bei Erwachsenen verschwindet es in aller Regel nicht mehr vollständig. „Auch diese Wahrheit muss man akzeptieren.“
Zwar weiß man mittlerweile viel über das Phänomen, bei Weitem aber noch nicht alles. Klar ist, dass die Störung über alle Kulturen hinweg ähnlich oft und familiär gehäuft auftritt. Es gibt also eine starke genetische Komponente. Etwa fünf Prozent der Kinder entwickeln ein Stottern, bei den meisten verschwindet es bis zur Pubertät.
Von Gudenberg will online nun noch einen Schritt weiter gehen: Zu einer Software ohne Therapeuten auf der anderen Seite. „Das heißt: Man kann seine Stimme aufnehmen und von einem Algorithmus analysieren lassen. Das ersetzt quasi das therapeutische Feedback.“ Zwei Drittel des Projekts seien geschafft. Er ist damit in die USA gegangen. „Weil Deutschland in diesem Bereich sehr reguliert ist. Man findet nicht so schnell eine Krankenkasse, die das bezahlen würde. Auf der anderen Seite gibt es keine Selbstzahler-Mentalität“, sagt er. Das sei in anderen Ländern anders.
Von Jonas-Erik Schmidt (dpa)