Hand aufs Herz: Wer hat einen Organspendeausweis in der Geldbörse? Der Grund, keinen zu haben, ist selten Unwille, Menschen nach dem eigenen Tod zu helfen. Viel häufiger ist es Nachlässigkeit. Die Folgen für schwerkranke Menschen sind oft tödlich.
Das Blaulicht steht noch neben dem Fahrersitz, eine neonfarbene Jacke mit dem Aufdruck „Notarzt“ baumelt über der Rückbank. „Ich kann nicht ohne Tatütata“, sagt Wolfgang Wachs. Und doch weiß der 59-Jährige, dass er das Blaulicht nicht mehr auf sein Autodach setzen darf, nie wieder vielleicht. Der passionierte Notarzt aus Brandenburg, der 20 Jahre lang Tausende Male als Lebensretter zur Stelle war, braucht selbst Hilfe: eine neue Lunge, eine Transplantation. „Es ist kein schöner Gedanke, dass jemand sterben muss, damit ich weiterleben kann“, sagt er. Doch sein Wunsch, wieder arbeiten zu können, ist stärker.
Wolfgang Wachs steht beim Deutschen Herzzentrum Berlin auf der Warteliste für eine neue Lunge. Doch über seine Chancen auf eine Organspende macht er sich keine Illusionen.
Das Vertrauen in die Transplantationsmedizin ist erschüttert
Als Notarzt hat er einer jungen Frau geholfen, die unter der gleichen Krankheit litt wie er: Lungenfibrose. Warum dabei die Lunge versteift und den Körper mit immer weniger Sauerstoff versorgt, ist noch nahezu unbekannt. Es ist eine seltene Erkrankung, und die Forschungsbudgets in Deutschland dafür sind gering. Mediziner Wachs weiß, dass seine Patientin inzwischen gestorben ist, weil es kein Spenderorgan für sie gab. „Sie war 35 Jahre alt und hatte zwei kleine Kinder.“
Es sind solch stille Dramen, die sich hinter den Zahlen der Deutschen Stiftung Organtransplantation verbergen. Rund 10.000 Menschen in Deutschland brauchen ein neues Organ, um weiterleben zu können. Rund drei von ihnen sterben jeden Tag, weil es nicht rechtzeitig zur Verfügung steht. 857 Organspender gab es 2016. Es ist der niedrigste Wert seit fünf Jahren.
2012 wurden an der Uniklinik Göttingen Manipulationen bekannt. Ein Arzt machte seine Patienten in Klinikakten kränker als sie waren, damit sie auf den Wartelisten der Vermittlungsstelle Eurotransplant nach oben rückten. Er war kein einzelnes schwarzes Schaf. Auch das Berliner Herzzentrum ist unter den verdächtigen Kliniken, Ermittlungen laufen noch. Inzwischen sind Kontrollriegel vorgeschoben. Doch der Schaden ist immens: Das Vertrauen in die Transplantationsmedizin ist erschüttert, die Spendenbereitschaft noch geringer als sie es ohnehin schon war.
Die Folgen bekommen Menschen wie Wolfgang Wachs hautnah zu spüren. Seit 2011 weiß er von seiner Lungenfibrose. Heiligabend 2016 beschloss er nach einem schweren Einsatz, dass er nicht mehr guten Gewissens als Notarzt arbeiten kann. Ihm fehlte die körperliche Kraft dafür. Seit rund drei Wochen braucht er dauerhaft ein Sauerstoffgerät. Husten quält ihn, selbst Sprechen kann anstrengend sein.
„Ich weiß nicht, was kommt. Ich kann nur warten“
Es fällt Wolfgang Wachs nicht leicht, sich jetzt mit kleinen Schläuchen in der Nase auf der Straße zu zeigen. An seinem Haus hängt außen das Schild „Arzt“. Innen hängt die Ahnengalerie – vom Ururgroßvater bis zu ihm, alle waren sie Mediziner. Auf der Terrasse steht eine Leuchttafel mit dem Schriftzug „Notaufnahme“ – ein Scherz. Ohne Humor lasse sich dieser Job nicht machen, sagt Doktor Wachs. Humor ist eine seiner Bewältigungsstrategien.
Leben und Tod – kaum ein Arzt ist dauerhaft so nah dran wie ein Rettungsmediziner. Nach Jahren als Notarzt auf der Straße und auf dem Wasser kam er seit 2008 mit dem Rettungshubschrauber „Christoph 39“ aus der Luft zu Hilfe. Im brandenburgischen Perleberg stationiert, war er in fünf Bundesländern im Einsatz. Es war ihm wichtig, zu bleiben, auch wenn er nichts mehr für Patienten tun konnte. Er blieb für die Angehörigen. Ein Notarzt ist nach seinem Verständnis auch ein Trostspender.
Wolfgang Wachs hat so ziemlich alles gesehen, was es an Unfällen und Unglücken gibt. Er hat viele Menschen sterben sehen. Doch er besitzt auch dieses Fotobuch. Ein kleiner Junge lacht auf dem Titelbild. „Er war im Gartenteich fast ertrunken“, sagt Wolfgang Wachs. Er hat das Kleinkind mit Kollegen wiederbelebt, heute ist der Junge elf, ein guter Schüler und wie ein Patensohn für ihn. Es ist das, was bleibt.
„Ich weiß nicht, was kommt. Ich kann nur warten“, sagt Wolfgang Wachs. Die Transplantation ist seine einzige Überlebenschance, Medikamente sind ausgereizt. Der Mangel an Organen führt zu einer paradoxen Situation: Würde Patient Wachs bald erfolgreich eine Lunge transplantiert, könnte er vielleicht sogar wieder arbeiten. „So wie Roland Kaiser, der singt ja auch wieder“, sagt er. Doch noch ist er nicht krank genug, um auf der Warteliste ganz nach oben zu rutschen. Je kränker er aber wird, desto schlechter sind die Aussichten auf schnelle Genesung.
Ein ruhiger Rückblick
In vier Monaten wird Wolfgang Wachs 60 Jahre alt. Den runden Geburtstag will er erleben und feiern. Bis dahin möchte er auch sein Tagebuch aus der Rettungshubschrauber-Zeit in Buchform bringen. Der ruhige Rückblick ist nach Jahren der Adrenalin-Schübe wichtig für ihn. Und er denkt an seinen Traum: Die „Route 66“ in den USA entlangzufahren. Die fehlt ihm noch, nach Reisen in 53 Länder.
Meist fährt er jetzt aber zu seinem Arzt, Kollegen reden offen miteinander. Wolfgang Wachs hat vorgesorgt, so gut es geht. Mit einer Patientenverfügung, Vollmachten für die Lebenspartnerin – und seit Jahren schon mit einem Organspendeausweis. In ganz dunklen Stunden denkt er ans Aufgeben. Doch dann kommt dieser Gedanke, dass er als Notarzt so oft ums Leben gekämpft hat. „Warum dann nicht auch bei mir selbst?“
Von Ulrike von Leszczynski (dpa)