Warum der „Schwer-In-Ordnung-Ausweis“ keine Inklusion ist

Hannah Kiesbye aus Pinneberg | Foto: Holger Hollemann/dpa

In den Medien wird derzeit viel über den „Schwer-In-Ordnung-Ausweis“ debattiert. Tanja Kollodzieyski, selbst Rollstuhlfahrerin, nahm das anfangs mit einem Schulterzucken zur Kenntnis. Mittlerweile ist sie von der Debatte jedoch genervt. Warum? Das erklärt die 30-jährige Bloggerin und Literaturwissenschaftlerin im Kommentar.

Der Schwerbehindertenausweis ist in Deutschland ein offizielles Dokument, dass alle Menschen mit einer Behinderung beantragen können, deren Behinderungsgrad bei 50 Prozent oder höher liegt. Der Grad misst dabei die Schwere der körperlichen, seelischen oder geistigen Behinderung. Die Inhaber und Inhaberinnen eines solchen Ausweises können verschiedene Nachteilsausgleiche bekommen, zum Beispiel als Eintrittsrabatte bei Veranstaltungen. Soweit die Theorie.

Wie die Idee für den Ausweis entstand

Die 14-jährige Hannah hatte im letzten Jahr die Idee, ihren „Schwerbehindertenausweis“ in einen „Schwer-In-Ordnung-Ausweis“ umzubenennen. Ihre Heimatstadt Hamburg war davon so begeistert, dass sie die Idee aufgriff und Hannah tatsächlich ihren „Schwer-In-Ordnung-Ausweis“ offiziell bekam.

Das klingt nach einem Erfolg. In Wirklichkeit war der Erfolg jedoch rein symbolisch: die Hülle für ihren Ausweis, auf der die Worte „Schwer-In- Ordnung-Ausweis“ aufgedruckt sind. Das Medienecho war dennoch riesig. Dann kam der Plan auf, die Umbenennung auch für andere zu ermöglichen. So drucken inzwischen neben Hamburg auch die Behörden in Rheinland-Pfalz und Brandenburg diese Hüllen.

Was ich kritisiere, ist nicht, dass Hannah diese Idee hatte. Auch nicht, dass es nun möglich ist, diese Hüllen zu bekommen. Einzelnen Kindern und Jugendlichen mag die Möglichkeit tatsächlich helfen, sich weniger ausgegrenzt zu fühlen und ihr Selbstbewusstsein stärken. Wenn das so ist, finde ich das super.

Was nicht okay ist: Die Berichterstattung der Medien und der Politik, die die Idee immer wieder als ein Fortschritt der Inklusion verkaufen. Wer in der Umetikettierung des Schwerbehinderungsausweises ernsthaft einen Fortschritt der Inklusion sieht, hat die Gedanken hinter der Inklusion gleich auf mehreren Ebenen nicht verstanden.

Behinderung geschieht von außen

Hinter der Austauschbarkeit der Begriffe „behindert“ und „Schwer in Ordnung“ steht die Idee, dass die Behinderung eine persönliche Aussage über die einzelne Person trifft. Dieser Ansatz reiht sich ein in die Tradition des „medizinischen Modells“. Im Mittelpunkt dieses Modells steht die Annahme, dass die Behinderung ein persönliches Problem ist. So soll jeder Mensch seine Behinderung mit Therapien oder sonstigen medizinischen Mitteln selbst beheben. Diese Theorie ist jedoch veraltet.

Seit einigen Jahrzehnten versuchen die „Disability Studies“ deshalb das sogenannte „soziale Modell“ voranzubringen. Im Zentrum des sozialen Modells steht zusammengefasst diese Aussage: „Ich bin nicht behindert, ich WERDE behindert.“ Es bedeutet also, dass die Behinderung kein individuelles Problem ist, sondern das es äußere Umstände gibt wie beispielsweise Treppen, die einen Menschen im Rollstuhl oder mit Gehstock behindern können.

Das Wort „Behinderung“ hat von sich aus keine negative Bedeutung. Es ist die Beschreibung eines Zustandes. Nicht mehr und nicht weniger.  Die negative Auffassung des Begriffs „Behinderung“ entsteht erst dadurch, dass das Wort so oft im falschen Zusammenhang gebraucht wird. Zum Beispiel als Beschimpfung oder als Synonym für „nichts können“ oder „nicht leistungsbereitsein“. Aber auch die von den Medien so geliebte Phrase „Trotz Behinderung …“ trägt dazu bei, dass der Begriff aktuell nicht neutral gebraucht werden kann. Um dies zu ändern, hilft kein Austausch von Begriffen. Was hilft: Dass wir alle – besonders die Medien – solche Worte bewusster einsetzen.

Inklusion braucht Taten

Als Literaturwissenschaftlerin und Germanistin weiß ich, wie wichtig Worte sein können. Bei der Inklusion geht es aber eben nicht nur um Worte, sondern besonders um Taten. Dass Deutschland bei der Umsetzung der Inklusion weit hinterherhinkt, zeigt sich nicht nur bei der täglichen Diskussion um die Schulbildung. Das Versagen der Politik bescheinigt auch ein UN-Ausschuß, der der Bundesrepublik vor gut drei Jahren eine mangelhafte Note in Sachen Inklusion gab. Hintergrund war die UN-Behindertenrechtskonvention, die Deutschland 2009 (!!!) unterzeichnet hat.

Im Alltag können wir Menschen mit Behinderung das „mangelhaft“ hautnah erleben. Denn dort stoßen wir immer noch und immer wieder an Barrieren, die wir – wie besagte Treppe – anfassen können. Genauso gibt es jedoch auch Barrieren in unseren Köpfen. Oft genug finden sie sich bei Behörden, die über unser Leben entscheidet.

Um unser Leben einfacher zu gestalten, braucht es leider mehr als ein kleines Stück Plastik, dass mit Worten bedruckt ist. Auf den Punkt bringt das beispielsweise der Tweet von Butterblumenland:

Liebe Behörden, mein Kind ist „schwer in Ordnung“! Und mein Kind ist behindert. Es braucht keinen „SchwerinOrdnung“-Ausweis sondern das Merkzeichen B zum H. Das zu verweigern findet ihr nämlich offenbar „schwer in Ordnung“, obwohl eure Richtlinien was anderes sagen.

— Butterblumenland (@andersbunt) 3. März 2018

Meiner Ansicht nach, ist der „Schwer-in-Ordnung-Ausweis“ in den meisten Fällen ein bloßes Alibi und Beruhigungsmittel für die Politik und viele Behörden.


Tanja Kollodzieyski | Foto: Andi Weiland

Zur Autorin

Tanja Kollodzieyski ist Literaturwissenschaftlerin und Bloggerin. Als „Rollifräulein“ twittert und bloggt sie über das Leben mit Behinderung, vor allem aber über den Umgang von Menschen mit Behinderung in Filmen, Serien und Büchern. Der Artikel „Warum der Schwer-In-Ordnung-Ausweis keine Inklusion ist“ ist zuerst auf seinem Blog „Thabs.de“ erschienen.