Achtsamkeit: Im Hier und Jetzt leben

© picture alliance/Bildagentur-online

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“Alles, was ist, dauert drei Sekunden: Eine Sekunde für vorher, eine für nachher, eine für mittendrin”, singt der Musiker Peterlicht. Um diese Regel aus der Hirnforschung geht es auch bei der Achtsamkeit. Das Ziel: im Hier und Jetzt zu leben. Wie das geht? Ganz einfach.

Yoga kennt heute jeder. Pilates auch. Aber Achtsamkeit? Da zucken viele immer noch mit den Schultern. Dabei ist es eine Technik, die ebenso gut beim Entspannen und Stressabbauen helfen kann. Dafür braucht man nicht einmal eine Matte oder Turnsachen. Die Übungen bieten sich daher auch fürs Büro an. Oder für gestresste Eltern im Alltag.

Eine Sache der Einstellung

Die Idee dabei: Entspannung fängt im Kopf an. Denn Stress ist nicht selten hausgemacht. Und wie sehr man sich selbst stresst und wie sehr man darunter leidet, ist Einstellungssache.

Das Problem: Viele hetzen im Alltag ständig von einer Sache zur nächsten – und sind dabei nie ganz bei der Sache. Und im Kopf kreisen die Gedanken andauernd um die Sorgen von morgen und den Ärger von gestern – das Wichtigste verpassen viele dabei: den Moment. Stattdessen denken sie an den Streit mit dem Chef, den drohenden Besuch bei den Schwiegereltern oder die unerledigten Dinge im Haushalt. So entsteht das Gefühl: Irgendwas ist immer. Das nagt an einem und macht unzufrieden.

Kleiner Test: Wissen Sie noch, wie der Kaffee heute Morgen geschmeckt hat? Nein? Dann sind Sie damit vermutlich nicht allein. Denn bei den meisten geht morgens schon der Autopilot an, erklärt Achtsamkeitstrainer Günter Hudasch aus Berlin. Dadurch sind sie oft nicht bei dem, was gerade passiert. “Wenn sie unter der Dusche stehen, kochen sie in Gedanken Kaffee, wenn sie den Kaffee trinken, denken sie ‘Ich muss los’, und so weiter”, erläutert der Vorsitzende des Verbandes der MBSR- und MBCT-Lehrer in Deutschland. Die beiden Abkürzungen stehen für verbreitete Trainingsprogramme für Achtsamkeit.

Stressbewältigung durch Achtsamkeit

Eine verbreitete Form des Achtsamkeitstrainings sind MBSR-Kurse. Die Abkürzung steht für “mindfulness based stress reduction”, also Stressbewältigung durch Achtsamkeit. Dieses Anti-Stress-Programm wurde von Jon Kabat-Zinn 1979 in den USA entwickelt. Ein solches Training läuft in der Regel über acht Wochen. Einige Krankenkassen bezuschussen mittlerweile solche Kurse. Denn der GKV-Spitzenverband hat in seinem Präventionsleitfaden inzwischen auch Maßnahmen zur Stärkung der Achtsamkeit aufgenommen, wie Sprecherin Claudia Widmaier erläutert. Versicherte müssen aber im Einzelfall prüfen, ob ihre Kasse dazugehört.

Hier und Jetzt, statt Multitasking

Hinzu kommt das ständige Schauen nach links und rechts: das Vergleichen mit anderen. “Wir sind immer am Checken”, sagt Hudasch. “Der Kollege hat schon wieder ein neues Auto – wie kann der sich das bloß leisten?” Dabei bringen solche Vergleiche meist nur eins: Man fühlt sich schlecht.

Achtsamkeit zielt dagegen darauf ab, wieder mehr im Jetzt und Hier zu leben. Es geht darum, dem Moment mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Dazu ist es wichtig, den inneren Autopiloten ab und zu einmal abzuschalten und das Gedankenkarussell zu stoppen. Ziel ist es, mehr Gelassenheit zu entwickeln, erklärt Hudasch.

Das kann im Alltag in vielen Situationen helfen – an der Supermarktkasse, im Stau oder an stressigen Tagen im Job. Ein typischer Fehler im Beruf: das Multitasking. Viele haben es sich angewöhnt, im Büro ständig mehrere Dinge gleichzeitig anzugehen. Neben der Arbeit an der Präsentation checken sie E-Mails, telefonieren, surfen, besprechen Dinge mit Kollegen.

Autopiloten abschalten

Dabei wissen Experten wie Professor Dirk Windemuth längst: Weder Frauen noch Männer beherrschen das. “Unser Gehirn kann das nicht”, erklärt der Psychologe vom Institut für Arbeit und Gesundheit der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung. “Tatsächlich strengt uns dieses Hin- und Herschalten enorm an – wir vergeuden Energie.” Das führe zu Fehlern und zu Stress. Zum einen, weil man überfordert ist. Und auch deshalb, weil man immer wieder Fehler korrigieren muss – das koste letztlich mehr Zeit, als die Aufgaben nacheinander zu erledigen.

Einigen ist dabei gar nicht klar, dass sie diese Arbeitsweise stresst. Achtsamkeitsübungen können helfen, sich solcher Dinge bewusst zu werden. Dazu ist es wichtig, einmal in sich hineinzuhorchen und hineinzuspüren. Das fängt an mit ganz einfachen Fragen: Was mache ich gerade? Wie mache ich es? Und wie fühle ich mich dabei?

Das hilft auch dabei, in schwierigen Situationen nicht immer in alte Rollenmuster zu verfallen. Kommt der Chef auf sie zu, geraten manche zum Beispiel gleich in Panik. Macht der Kollege einen Änderungsvorschlag, sehen einige das sofort als persönlichen Angriff an. Das kann leicht passieren, wenn der Autopilot an ist.

Abstand nehmen und Muster erkennen

Dann ist es wichtig, einen Moment innezuhalten, erklärt Rüdiger Standhardt vom Giessener Forum, einem Ausbildungsinstitut für achtsamkeitsbasierte Verfahren. “Stress ist oft durch einen Tunnelblick gekennzeichnet.” Wer dann innerlich einen Schritt zurücktritt, sieht womöglich, dass es noch andere Wege gibt, mit der Situation umzugehen. So schaffen es Mitarbeiter eher, angemessen zu reagieren, wenn sie merken, dass die Wut in ihnen hochkocht und sie am liebsten explodieren würden.

Dazu sollten sie einmal genau beobachten, was in solchen Situationen passiert, um sie besser verstehen zu können. Wichtig dabei ist es, nicht zu bewerten. Denn wirklich offen für Eindrücke ist man nur, wenn man sich nicht selbst zensiert. Damit ist keine Alles-Egal-Haltung gemeint, erläutert Hudasch. Es geht vielmehr darum, Dinge nicht “wegzukontrollieren” – beispielsweise einen Schweißausbruch abzutun, weil man sich dafür schämt. Zunächst geht es darum, einfach nur wahrzunehmen, was geschieht. Das hilft, ein wenig Abstand zu bekommen. Und beim nächsten Mal womöglich nicht mehr so verkrampft zu reagieren.

Von Tobias Schormann (dpa)