„Alles an mir sah nach Krankheit aus“

„Alles an mir sah nach Krankheit aus“

Foto: Vince Talotta/picture alliance/ZUMA Press

Im Jahr 2009 erkrankte Uta Melle an Brustkrebs – zu dem Zeitpunkt war sie 39 Jahre alt, Mutter von zwei Kindern und seit über zehn Jahren verheiratet. Uns erzählt Melle, wie es sich anfühlt, wenn durch die Chemotherapie die Haare ausfallen und was ihr half, mit dem Verlust umzugehen.

Vielen Frauen sind ihre Haare extrem wichtig. Wenn sie ausfallen, ist es daher besonders schlimm; ein weiterer Angriff auf die Weiblichkeit. Bei Brustkrebs kommt jedoch noch etwas anderes dazu: Von einem Tag auf den anderen ist der Krebs für jeden sichtbar – auch für einen selbst, was vielleicht das Schlimmste ist. Es ist immer ein Unterschied etwas zu wissen oder etwas zu sehen!

Angst vor dem Haarausfall hatte ich nicht, da ich schon mal raspelkurze Haare hatte und meine eigene Mutter, die viele Krebserkrankungen hatte, oft mit Glatze gesehen habe. Wir sehen uns ähnlich und haben die gleiche Kopfform.

Als es dann losging, war es doch anders als gedacht: Es tat weh! Solange die toten Haare noch im Kopf stecken, entstehen extreme Spannungskopfschmerzen. Erst als mir eine Freundin die Haare schor, ließen diese nach. Dann stand ich im Bad vor dem Spiegel: ohne Haare und ohne Brüste. Nackter kann ein Mensch kaum sein. Dies war der Moment, in dem ich aus dem seit der Diagnose bestehenden Schockzustand aufgewacht bin. Dieser Zustand hatte mich bis dahin von allem abgeschottet: von der Diagnose, von Mamis Tod, vom Verlust meiner Brüste, von der Konfrontation mit dem Tod. Nun war nichts mehr zu leugnen. Alles an mir sah nach Krankheit aus. Es war aber auch ein Moment der Akzeptanz. Da ich immer erst Veränderung zulassen kann, wenn ich ein Scheitern, ein Ende oder sonst etwas akzeptiert habe, war ich in diesem Moment für meinen Neuanfang bereit. Natürlich kamen auch Trauer und Wut hoch, die in diesem Moment endlich greifbar wurden.

Ein Henna-Tattoo für die Glatze

Jetzt – fünf Jahre später – ist die Wut gegangen und die Trauer milde geworden. Momente der Trauer bestehen heute eher in dem Genuss der Erinnerungen – nicht mehr aus dem Bejammern oder Wiederherbeisehnen.

Ich hatte das große Glück, dass mir die Glatze stand. Die Leute auf der Straße waren größtenteils freundlich, im hippen Berlin ging ich teilweise als Fashion Victim durch! Spielplätze waren damals der einzige Ort, an dem ich nicht so gerne war: Hier gab es doch regelmäßig vorwurfsvolle Blicke von Müttern, die ihre Angst vor der Konfrontation mit Krebs hinter ihren Kindern versteckten.

Dann entdeckte ich das Foto einer älteren Dame mit einem Henna-Tattoo auf der Glatze! Das wollte ich auch! Henna wird heilende Kraft nachgesagt und schick ist es auch! Ich fragte meinen Arzt, ob er wegen der Hennainhaltsstoffe Bedenken hätte, doch er wies mich lediglich darauf hin, es nur mit purem Henna ohne Zusatzstoffe machen zu lassen. Nach langer Suche ­– vergesst die Tattoostudios, die machen das nicht – fand ich eine Hennakünstlerin, die schon immer mal einen Kopf bemalen wollte. Nach drei Stunden still Sitzen war die Hennapaste aufgetragen. In den nächsten zwei Tagen bröckelte sie ab und hinterließ ihr wunderschönes Muster. Es hielt circa drei Wochen. Zwei Monate später habe ich es noch mal machen lassen. Es ist ja auch angenehmer, auf der Straße einen „wow-ist-das-cool“-Blick als Mitleid zu bekommen.

Nach dem Haarausfall kam die Fatigue

Bei den ersten drei Infusionen (roter Mix) fielen mir lediglich die Kopfhaare aus. Eine Woche nach der jeweiligen Infusion fingen sie immer schon wieder an zu wachsen. Taxol war das Mittel der letzten drei Infusionen. Dabei fielen mir alle Haare aus – ALLE! Den letzten Wimpern gaben meine Kinder Namen und als auch sie schließlich ausfielen, durften sie sich was wünschen.

Das mit den fehlenden Wimpern und Augenbrauen sieht natürlich nicht gesund und gut aus – das lässt sich aber mit ein wenig Übung nachmalen. Aber es ist doch toll, endlich mal alle Achsel-, Bein- und Schamhaare los zu sein! Copacabana for free!

Nach der letzten Infusion kamen die Haare sehr schnell wieder – ein wunderbarer Moment für die Kids zu erkennen, dass ich auf dem Weg der Besserung war.

Die Haare kamen richtig schick wieder! Allerdings stand mein Aussehen dann in einem Widerspruch zu meinem körperlichen Wohlbefinden. Ein halbes Jahr habe ich mit der Fatigue gekämpft, einer Art chronischer Erschöpfung. In der Zeit gab es dadurch viele Missverständnisse in meinem Umfeld. Die Menschen um mich herum wollten so sehr, dass es mir besser geht. Ich wollte sie nicht enttäuschen. Heute weiß ich vielleicht, was ich hätte sagen können: Auch wenn ich wieder Haare habe, geht es mir noch nicht wieder gut. Und wenn ihr was Gutes für mich tun wollt – dann gebt mir einfach noch Zeit!

 

Uta Melle | Foto: Leafly.de

Zur Autorin

Im Jahr 2009 erkrankte Uta Melle Brustkrebs – damals war sie 39 Jahre alt. Als der Gentest zeigte, dass sie Trägerin einer BRCA2-Genmutation ist, entschied Melle sich für die beidseitige Mastektomie. Der Grund: Durch die Mutation bestand für sie ein Risiko von etwa 80 Prozent, auch auf der gesunden Seite Brustkrebs entwickeln. Der Artikel „Alles an mir sah nach Krankheit aus“ ist zuerst auf Uta Melles Blog „Amazonen“ erschienen.