Ausschreibung mit Folgen

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Ende 2016 hat die Techniker Krankenkasse (TK) die Versorgung mit ableitenden Inkontinenzhilfsmitteln neu ausgeschrieben. Mit der Vertragsvergabe sind jedoch nur wenige zufrieden. Kritisiert werden Ausschreibungen bei Hilfsmitteln schon lange. Ob das neue Heil- und Hilfsmittelversorgungsgesetz (HHVG) daran etwas ändern wird, ist fraglich. 

Um ihre Blase zu entleeren, braucht Anouk einen Katheter. Anouk ist 24 Jahre alt und durch einen Impfunfall vor zwei Jahren von ihrem zehnten Brustwirbel an gelähmt. Die dünnen Kunststoffschläuche bekommt Anouk von ihrem Versorger per Post zugeschickt. Am 1. März diesen Jahres blieb ihr Briefkasten jedoch leer.

Anouk ist bei der Techniker Krankenkasse (TK) versichert. Im August 2016 hatte die TK die Verträge zur Versorgung mit ableitenden Inkontinenzhilfen neu ausgeschrieben – dazu zählen etwa Urin-Beinbeutel, sogenannte Analtampons und Einmalkatheter. Ausgeschrieben wurde in 22 Regionen. Für zwei davon erhielt die Gesundheits GmbH Deutschland (GHD) als einziges Unternehmen den Zuschlag, die übrigen Verträge gingen an Bietergemeinschaften, an denen GHD beteiligt ist. Der Branchen-Informationsdienst „MTD-Instant“ schreibt hierzu: „Es kann faktisch von einer Monopolvergabe gesprochen werden.“

Lieferengpässe vermeiden

Michael Ihly, Pressesprecher der TK, sieht das anders. Er betont, dass das Verfahren „offen“ und „wettbewerbsfreundlich“ gewesen sei. Durch die Ausschreibung in mehreren Regionen und die Möglichkeit, sich in Bietergemeinschaften zusammenzuschließen, habe die TK auch die Interessen von kleinen und mittelständischen Versorgern berücksichtigt, so Ihly.

„Formal scheint bei der Ausschreibung alles korrekt verlaufen zu sein“, bestätigt Rechtsanwalt Jörg Hackstein, der sich bei der Kanzlei Hartmann Rechtsanwälte auf die komplexen rechtlichen Fragestellungen des Gesundheitsmarktes spezialisiert hat. Was Hackstein jedoch kritisiert, ist die Gestaltung der Ausschreibung.

„Die TK hätte die Anzahl der Regionallose, an denen sich einzelne Versorger beteiligen können, von Anfang an limitieren sollen“, meint der Rechtsanwalt. Hätte ein Versorger beispielsweise in nicht mehr als fünf Regionen mitbieten dürften, hätte es am Ende auch eine größere Vielfalt der Leistungserbringer gegeben. „Auch eine Monopalvergabe, wie es die „MTD-Instant“ nennt und die vergaberechtlich nicht zulässig ist, hätte so verhindert werden können“, so Hackstein – ebenso wie Lieferengpässe.

Ein Lieferengpass war genau Anouks Problem – besser gesagt das ihres neuen Leistungserbringers GHD. Als die Katheter nicht wie vereinbart eintrafen, rief Anouk bei ihrem neuen Versorger an. Als sie nach langer Zeit in der Warteschleife endlich mit einem Mitarbeiter sprach, versuchte der sie zu vertrösten – er wisse leider auch nicht, wann die Lieferung käme. Die Alternative, die GHD ihr schließlich schickte, passte nicht.

Versorgung oft nur bis zur Bordsteinkante?

Die Ausschreibung der TK ist jedoch nur ein Beispiel von vielen. Angesichts stetig steigender Ausgaben der Krankenkassen dürfen Hilfsmittel seit 2007 von den Krankenkassen ausgeschrieben werden. Die Reform sollte unter den Versorgern mehr Wettbewerb erzeugen, sie dadurch zu wirtschaftlicheren Angeboten veranlassen und die Qualität der Versorgung verbessern. Denn je überschaubarer der Kreis der Leistungserbringer, desto besser ließe sich ihre Arbeit kontrollieren – zumindest in der Theorie.

„Die Qualität der Hilfsmittelversorgung hat sich durch die Ausschreibungspraxis vieler Krankenkassen in den letzten Jahren enorm verschlechtert“, meint Marcus Kuhlmann vom Deutschen Industrieverband für optische, medizinische und mechatronische Technologien (Spectaris). Statt auf die Qualität der Versorgung zu achten, gewann zu oft der Leistungserbringer mit dem günstigsten Angebot, ohne dass die Krankenkasse interveniert hätte. „Und das“, kritisiert Kuhlmann, „ging nicht nur zu Lasten der Produkt-, sondern auch der Dienstleistungsqualität.“ Leidtragende seien letztlich die Versicherten.

Ein Beispiel: Wenn ein Versicherter einen neuen Rollstuhl verschrieben bekommt, muss dieser individuell eingestellt werden – am besten vor Ort im Sanitätsfachgeschäft. „Um die Kosten ihres Angebots einzuhalten“, so Kuhlmann, „schicken viele Leistungserbringer den Rollstuhl jedoch einfach per DHL.“ Aufbauen und individuell einstellen müsste der Versicherte dann selbst. „Das Beispiel ist vielleicht extrem“, sagt Kuhlmann, „aber leider keine Ausnahme.“

Ausschreibungen schränken das Wahlrecht der Versicherten ein

Was Anouk ärgert, ist, dass die Ausschreibung ihr das Recht nimmt, selbst zu entscheiden, von welchem Anbieter sie ihre Katheter bekommen möchte. Mit ihrem alten Versorger war sie schließlich sehr zufrieden.

Mit ihrem Unmut ist die junge Frau nicht alleine. „Ich bin mittlerweile doch sehr erbost darüber, dass die Techniker Krankenkasse mein persönliches Wahlrecht des Vertragspartners auf einen einzigen Lieferanten beschränkt“, schreibt Michale1980 in der Inkontinenz-Selbsthilfegruppe. Er berichtet sogar von über 50 Euro Aufzahlung, die er nun für seine Bein- und Bettbeutel in der gewohnten Qualität leisten soll. Gegen die Aufzahlung hat Michale1980 sich nun sogar beim Bundesversicherungsamt beschwert.

Dass bei den Ausschreibungen medizinischer Hilfsmittel einiges schiefgeht, hat auch der Gesetzgeber erkannt und am 16. Februar 2017 das Gesetz zur Stärkung der Heil- und Hilfsmittelversorgung (HHVG) verabschiedet. Gekappt wurden die Ausschreibungen als Mittel zur Vertragsvergabe nicht. Allerdings sollen die Krankenkassen zukünftig die Qualität der Versorgung stärker gewichten – 50 Prozent Preis, 50 Prozent Qualität, so die neue Formel.

Die Qualität der Versorgung überprüfen

„Das Gesetz geht in die richtige Richtung“, meint Kuhlmann. „Ob die Versorgung dadurch besser wird, bleibt jedoch abzuwarten.“

Anwalt Hackstein sieht das ähnlich. Allerdings bezweifelt er, dass das Gesetz die Versorgung der Patienten mit Hilfsmitteln tatsächlich verbessern wird. „Letztendlich kommt es nicht auf die Qualitätskriterien an, die in den Ausschreibungen formuliert werden“, meint er, „sondern darauf, ihre Einhaltung zu kontrollieren.“ Die Verantwortung für das Vertragscontrolling liegt jedoch wie zuvor bei den Krankenkassen – und wie wenig das funktioniere, hätte man in der Vergangenheit gesehen.

Nach langem Hin und Her werden Anouk nun wieder die richtigen Katheter geliefert – und zwar von ihrem alten Versorger. Der darf Anouk immerhin so lange beliefern, bis GHD die passenden Katheter auf Lager hatte.