„Behinderte Menschen nicht als Last sehen“

© Thomas Breier

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Rund 7,5 Millionen Menschen sind schwerbehindert. Ein Jurist im Rollstuhl bewältigt ein berufliches XXL-Programm, braucht rund um die Uhr Assistenz. Dass er dafür einen Großteil seines Einkommens abgeben muss, empfindet nicht nur er als ungerecht.

Die rechte Hand bewegt die Computer-Maus. Aber der Arm gehorcht ihm nicht. Den muss eine Assistenzkraft zunächst in die richtige Ausgangsposition bringen – auf dem Tischaufsatz des Rollstuhls. Dann ist der Kölner Jurist Carl-Wilhelm Rößler startklar in seinem Büro, vor Laptop und PC. Er hat sein Headset zum Telefonieren auf, denn den Hörer in die Hand nehmen kann er nicht. „Ich habe improvisiert und mir eine Anlage zusammengesetzt – und wenn es klingelt, klicke ich im Laptop auf Annehmen und los geht’s“, erzählt der 48-Jährige.

Leben mit persönlicher Assistenz

„Tippen geht nicht. Ich diktiere. Über eine Spracherkennung mit juristischem Wortschatz wird das in eine Word-Datei umgewandelt. Eine Riesenhilfe.“ Rößler ist sehr aktiv. Er vertritt Mandanten als Anwalt für Sozialrecht, arbeitet schwerpunktmäßig in einer Beratungsstelle, fertigt auch Gutachten für die Politik und hält Vorträge. Der 48-Jährige sitzt im Rollstuhl. Seit dem Kindesalter ist er körperlich stark eingeschränkt.

Bei seinem XXL-Programm ist Rößler auf Hilfe angewiesen. Er braucht eine 24-Stunden-Assistenz. Auch für das Private – den Alltag Zuhause oder wenn es den Hard-Rock-Fan mal auf ein AC/DC-Konzert zieht. Dass er für diese Unterstützung einen großen Teil seines Einkommens abgeben muss, empfindet der Jurist als „schreiendes Unrecht“. Nicht nur er. Zum Internationalen Tag der Menschen mit Behinderung kritisieren Sozialverbände eine finanzielle Diskriminierung und verlangen ein Umsteuern.

Eingliederungsleistungen – sie sollen helfen, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben – fallen unter die Sozialhilfe. Folge laut Sozialverband Deutschland (SoVD): Einkommen und Vermögen der behinderten Menschen werden angerechnet. Für Rößler heißt das, dass ein wesentlicher Teil seines Einkommens für die Assistenzkosten eingezogen wird, wie er schildert.

Was bedeutet Inklusion?

Die UN-Behindertenrechtskonvention fordert Inklusion, also für alle Menschen eine uneingeschränkte und gleichberechtigte Teilnahme am gesellschaftlichen Leben. Ein Mensch mit geistigen, körperlichen oder psychischen Einschränkungen soll sich nicht anpassen, integrieren müssen, sondern gehört – so wie er ist –mitten in die Gesellschaft. In den Fokus rückt häufig die inklusive Bildung: Schüler mit und ohne Behinderungen sollen gemeinsam in einer Regelschule lernen. Inklusion umfasst aber auch Ausbildung, Beruf und alle anderen Lebensbereiche. Die Konvention wurde Ende 2006 von der UN-Generalversammlung beschlossen und trat im Mai 2008 in Kraft. Auch Deutschland hat sich zur Umsetzung verpflichtet.

Raus aus der Sozialhilfe

„Das bringt viele Betroffene sowie ihre Partner und Familien um die Früchte eigener Erwerbstätigkeit, so dass sie im Vergleich zu nicht behinderten Menschen erheblich benachteiligt werden“, beklagt der SoVD. Rund 7,5 Millionen Menschen gelten in Deutschland als schwerbehindert. Rößler stellt klar: „Behinderung und Bedürftigkeit haben nichts miteinander zu tun. Schon deshalb muss die Eingliederungshilfe raus aus der Sozialhilfe.“

Ungeachtet seiner finanziellen Nachteile – der Jurist hängt sich voll rein in die Arbeit. Im Zentrum für selbstbestimmtes Leben (ZsL) berät er behinderte Menschen oder deren Angehörige. Er schreibt Stellungnahmen, etwa für Experten-Anhörungen im Landtag, wie man die Belange behinderter Menschen berücksichtigen sollte. Der Kölner ist in vielen Gremien vertreten, engagiert sich im Forum behinderter Juristen.

„Eigentlich wollte ich in den kaufmännischen Bereich, aber nach meiner Banklehre bin ich nicht übernommen worden, wegen meiner Behinderung“, erzählt er. „Je höher die Qualifikation, desto seltener sind oft manuelle oder körperliche Tätigkeiten. Das war ein Anreiz für mich, Jura zu studieren.“ Gesagt, getan. Aber: „Man muss sich als behinderter Mensch im Klaren sein, und das ist ein schmerzhafter Prozess, dass die Einschränkung bestimmte Berufe nicht zulässt.“

Inklusion umfasst alle Lebensbereiche

Rößler kämpft für seine Mandanten auch vor Gericht – da geht es um Diskriminierungsfälle, Streit rund um Pflege oder Hilfsmittel. Seine Kanzlei hat er daheim. „Das Büro ist die Wohnung. Ich spare so Zeit und Kraft, kann kombinieren mit behinderungsbedingten Erfordernissen wie Physiotherapie.“ Barsche Ablehnung habe er bisher nicht erlebt. „Aber bei Gericht wird man schon mal nicht erkannt. Da sitze ich im Saal und höre mir an: ‚Na, Ihr Anwalt kommt wohl nicht mehr’.“ Rößler nimmt das nicht krumm.

Inklusion – gleichberechtigte Teilhabe – werde oft auf die Schule reduziert, umfasse aber alle Lebensbereiche, sagt Rößler. Sie stehe noch am Anfang. „Der Abbau auch verdeckter Benachteiligung ist wichtig. Und Begegnung. Inklusives Leben braucht ausreichend barrierefreien, bezahlbaren Wohnraum.“ Er mahnt: „Inklusion setzt voraus, dass behinderte Menschen nicht als Last gesehen, sondern als gebender Teil der Gesellschaft wertgeschätzt werden.“

Von Yuriko Wahl-Immel (dpa)