Das Geschäft mit der Einsamkeit

Das Geschäft mit der Einsamkeit

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„Wir haben Zeit für Sie“: In Deutschland gibt es alleinstehende Senioren, die dafür Geld bezahlen, dass andere Menschen mit ihnen Freizeit verbringen. Entwickelt sich daraus ein Trend?

Spazieren gehen, Zuhören, Kaffee trinken – gegen Geld: In Deutschland gibt es Menschen, die mit Rentnern Freizeit verbringen und dafür bezahlt werden. Zu den Kunden zählen alleinstehende Senioren, die in ihrem Alltag einen Ansprechpartner suchen. Solche Geschäftsmodelle sind hierzulande Experten zufolge noch selten. Das Geschäft mit der Einsamkeit – wird sich daraus eine Marktnische entwickeln?

Edith Henschel sitzt in einem Sessel in ihrem Wohnzimmer in Berlin und blättert in einem Fotoalbum. Neben ihr hat Carola Braun Platz genommen. Die gelernte Krankenschwester kommt dreimal pro Woche zu der 87-Jährigen und erledigt in der Wohnung alles, was anliegt: Kochen, Briefkasten leeren, Schriftverkehr, Putzen und Haare schneiden. Darüber hinaus verbringt sie Freizeit mit der älteren Dame, die auf einen Rollator angewiesen ist. Gemeinsam Kaffee trinken gehört dazu und der wöchentliche Gang über den Friedhof, wo Henschels Ehemann und ihre einzige Tochter begraben sind.

Ein Franchise-Modell

„Ich gehe ja alleine nicht mehr raus“, sagt die Rentnerin. Für die gemeinsame Zeit nimmt Braun einen Stundenlohn von 17,50 Euro. Zwar kommt auch ein Pflegedienst zu Henschel ­– aber für alles, was darüber hinausgeht, ist Carola Braun zuständig, wie sie berichtet.

Wie kam es zu der Geschäftsbeziehung? Als vor Jahren kurz nach dem Tod ihrer Tochter auch ihr Mann starb, stand Edith Henschel völlig alleine da, wie sie sagt. Weil ihre Nichte in Mecklenburg-Vorpommern lebe und daher nicht so häufig zu Besuch kommen könne, habe diese nach einer Lösung gesucht, damit Henschel im Alltag Unterstützung bekommt. Im Internet sei sie auf das Geschäftsmodell von Braun und ihrer Firma SeniorenLebenshilfe gestoßen. „Die Menschen möchten einfach zu Hause alt werden, sie wollen ihre gewohnte Umgebung nicht verlassen“, sagt Braun. „Ganz wichtig ist eben: Sie möchten ihr Leben selbst bestimmen können.“

Das Geschäftsmodell funktioniert über Franchising – also mit Selbstständigen unter einer Dachmarke. Das Geschäftsführer-Ehepaar Braun erhält von den derzeit rund 35 „Lebenshelfern“, wie sie in der Firma genannt werden, eine monatliche Pauschale von 150 Euro – im Gegenzug kümmern sie sich um die Vermittlung von Senioren und geben Anzeigen auf. Die Umsätze seien steigend. Das Angebot der Firma gebe es auch außerhalb der Hauptstadt in Potsdam oder Cottbus, aber auch in Baden-Württemberg, Bayern oder Nordrhein-Westfalen.

Solche Geschäftsmodelle sind in Deutschland nach Experteneinschätzung bislang selten. Statistische Zahlen liegen nicht vor und auch keine Umsatzschätzungen. Ähnliche Firmenideen gibt es auch im Ausland. In Japan zum Beispiel existiert ein Beratungsservice der besonderen Art. „Miet-Onkel“ werden die Männer mittleren Alters genannt, die anderen für umgerechnet neun Euro pro Stunde ihr Ohr schenken – es geht zum Beispiel um Probleme auf der Arbeit oder Einsamkeit zu Hause.

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Die Nachfrage steigt

Der Trend- und Zukunftsforscher Christian Rauch vom Zukunftsinstitut in Frankfurt am Main geht generell von einer steigenden Nachfrage in den nächsten Jahren aus. Er beobachte, dass es bereits eine „sichtbare Professionalisierung“ von Dienstleistungen im privaten Leben gegeben habe. Es bilde sich nach und nach eine Serviceökonomie heraus, die sich privatwirtschaftlich organisiere.

Der Soziologe nennt einige Eckpunkte: Familienverbünde funktionierten nicht mehr so wie vor Jahrzehnten, weil Kinder oder Enkel wegzögen. Dadurch entstehe für ältere Menschen der Bedarf nach Fürsorgeleistungen. Zugleich gebe es immer mehr Rentner, die länger lebten und gesund seien. Viele hätten den Anspruch, möglichst lange selbstverantwortlich und individuell zu leben, sagt Rauch. Aber auch junge Familien griffen auf Dienstleistungen von Firmen zurück.

In einigen Städten in Deutschland gibt es sogenannte Leihomas und -opas, die von Eltern dafür bezahlt werden, dass sie Zeit mit ihren Kindern verbringen. Ute Krusch betreibt ein kleines Unternehmen in Köln, das Rentner weitervermittelt. Die Nachfrage steige, sagt sie. Viele Familien wohnten nicht an denselben Orten wie die Großeltern. Und auch bei Senioren gebe es zunehmend Interesse für eine solche Arbeit, weil vor allem Frauen oftmals eine kleine Rente bezögen und ihre Finanzen aufbessern wollten.

Pflegebedürftigen zuhören, Vorlesen, kleine Spaziergänge machen, Krankenhausbesuche – das sind Dienstleistungen, die traditionell vielerorts Ehrenamtliche übernehmen. Nach Einschätzung von Professor Jörg Althammer vom Lehrstuhl für Wirtschaftsethik und Sozialpolitik an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt sei es in den vergangenen Jahren zugleich für viele Engagierte schwieriger geworden, ehrenamtlich zu arbeiten. Weil zum Beispiel die Erfordernisse in der Berufswelt gestiegen seien und daher schlichtweg Zeit fehle. Auf lange Sicht könnte es demnach für karitative Einrichtungen schwierig werden, dauerhaft eine stabile Angebotsstruktur am Leben zu erhalten, sagt der Wissenschaftler. Und genau in dieser Lücke hätten Dienstleistungs-Firmen eine Chance, sich zu etablieren.

Das Modell ist besonders für Großstädte geeignet

Dass sich solche Firmenkonzepte wie die Berliner Seniorenhilfe deutschlandweit und sehr breitflächig am Markt durchsetzen werden, davon geht er zwar nicht aus. „Aber vor allem in Ballungsräumen und Großstädten haben solche Firmen gute Bedingungen, in ländlichen Regionen sind hingegen die Familienstrukturen noch stärker ausgeprägt“, sagt Althammer.

Zurück in der Berliner Wohnung von Rentnerin Edith Henschel. Weihnachten steht vor der Tür. Sie werde das Fest alleine verbringen, das mache ihr wenig aus, sagt die 87-Jährige. Zu Essen gebe es Entenkeule aus Mecklenburg-Vorpommern. Carola Braun bereite das vorher zu, so dass sie alles nur noch aufwärmen müsse.

Von Anna Ringle (dpa)