Mode zum Begreifen

Elena Kashirskaya

Christine Wolf ist Modedesignerin und lebt in Berlin. Im April 2014 fand in Moskau die Fashion Week Moscow statt. Erstmals wurde hier auch Mode für blinde Menschen gezeigt. Uns erzählt sie, was ihre Kleider von anderen unterscheidet und was sie von dem Begriff “inklusive Mode” hält. Ihr Fazit: Mode macht man zuerst für die Menschen!

Redaktion: Wieso machen Sie Mode speziell für Blinde?
Christine Wolf: Ehrlich gesagt kam die Idee gar nicht von mir. Bezgraniz Couture*, das waren die Veranstalter der Show, haben mir das Thema vorgeschlagen. Zunächst wusste ich gar nicht, was ich bei einer Kollektion für blinde Menschen anders machen soll. Erst bei der Arbeit wurde mir klar, wie spannend und wichtig das Thema ist.

Und was haben Sie jetzt anders gemacht?
Bei der Kleidung für Blinde geht es nicht zuerst um die Frage des Schnitts. Wichtiger ist die Materialität: Wie fühlt sich der Stoff an? Was macht er für Geräusche? Und es geht um die Vermittlung von Informationen.

Was meinen Sie mit “Informationen”?
Die Kollektion soll wichtige Hinweise transportieren. Etwa: Welche Farbe hat meine Hose? Bei wie viel Grad kann ich sie waschen? Mit welchem Hemd kann ich sie tragen? Hierfür musste ich mir einen Code einfallen lassen.

Kleider, die man lesen kann

Und was haben Sie sich ausgedacht?
Ich habe die Kleider mit kleinen Perlen bestickt und alles Wichtige in Blindenschrift festgehalten. Bei den blinden Models kam das sehr gut an. Eines der Mädchen wollte die Kleider gar nicht mehr aus der Hand geben. Sie nahm eines nach dem anderen und las immer weiter. Meine Kleidung soll den Menschen helfen, ein Stück selbstständiger zu werden.

Was hat denn die Farbe des Kleides mit meiner Selbstständigkeit zu tun?
Enorm viel! Während meiner Arbeit habe ich eine Frau kennengelernt, die ihre Wäsche immer nur kalt gewaschen hat. Beim Sortieren konnte sie die Farben ja nicht sehen. Und, ob ein Kleid rot oder weiß ist, lässt sich nicht ertasten. Eine andere Frau war sich jeden Morgen unsicher, ob sie sich auch richtig angezogen hat, oder nicht vielleicht doch wie ein Clown auf die Straße geht.

In letzter Zeit wird immer wieder über “inklusive Mode” gesprochen. Was halten Sie von dem Begriff?
Sie meinen eine Mode, die für jeden tragbar ist?

Genau.
Das halte ich für eine Illusion. Ein T-Shirt wird niemals jedem passen. Und das muss es auch nicht. Viel wichtiger ist es anzuerkennen, dass Menschen unterschiedliche Bedürfnisse haben. Egal ob mit oder ohne Behinderung. Inklusion bedeutet, sich auf diese Bedürfnisse einzulassen. Das hat auch mit Respekt zu tun.

Können Sie ein Bespiel nennen?
Anders als einige Rollstuhlfahrer brauche ich beispielsweise keine Hose mit nach vorne abgesenktem Bund. Trotzdem ist es wichtig, dass es sie gibt. So zeigt man den Menschen, dass man ihre Bedürfnisse wahrnimmt. Als eines der blinden Models ihr Kleid anzog, lächelte sie nicht nur, weil sie auf dem Stoff lesen konnte. Wichtig war auch das Gefühl: Hier geht es um mich, hier macht sich jemand um mich Gedanken.

Wenn bei der russischen Fashion Week Mode für Menschen mit Behinderung gezeigt wird, ist das doch ein gutes Zeichen.
Natürlich ist das ein Fortschritt. Allerdings muss man bedenken, dass die Gruppe von Bezgraniz das auch nicht alleine bewerkstelligen konnte, sondern von Mercedes-Benz unterstützt wurde. Trotzdem sind wir auf einem guten Weg.

Auch Übergewichtige und Schwangere wurden lange von der Modeindustrie ignoriert. Heute gibt es in jedem H&M-Geschäft eine Abteilung für XXL- und Umstandsmode. Glauben Sie, dass es das bald auch für Menschen mit Behinderung geben wird?
Bei der Kleidung für Rollstuhlfahrer könnte ich mir das gut vorstellen. Immerhin gibt es allein in Deutschland mehr als 1,5 Millionen Menschen, die im Rollstuhl sitzen – das ist ein großes Klientel. Zur Anzahl blinder Menschen gibt es hingegen nicht einmal eine Statistik. Sie bilden eine Nische, an die bisher kaum jemand gedacht hat. Umso wichtiger ist es, sich mit ihnen zu beschäftigen.

 

 

 

*Couture with no bounds
http://www.bezgraniz-couture.com
http://www.ChristineWolf-berlin.de