„Das richtige Zeichen“

Rolf Rosenbrock © Der Paritätische Gesamtverband

Rolf Rosenbrock © Der Paritätische Gesamtverband

Auch in Deutschland gilt: Je besser jemand finanziell gestellt ist, desto höher ist seine Lebenserwartung. Rolf Rosenbrock, Professor für Gesundheitswissenschaften und Vorsitzender des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, sieht die Ursache dafür weniger in einer unterschiedlichen medizinischen Versorgung, sondern im sozialen Umfeld.

Redaktion: Sterben arme Menschen nicht immer schon früher als reiche?

Rolf Rosenbrock: Dass es schon immer so war, heißt ja nicht, dass es gerecht ist. Menschen an oder unter der Armutsgrenze leben in Deutschland statistisch gesehen bis zu zehn Jahre kürzer als Wohlhabende und werden im Durchschnitt rund drei Jahre früher chronisch krank. Das ist unerträglich. 

Aber was lässt sich dagegen tun?

Wichtig ist, dass wir verstehen: Gesundheit hängt nicht nur vom medizinischen Fortschritt ab. Wenn ich Krebs habe, ist der Zugang zur richtigen medizinischen Therapie essenziell. Trotzdem: Dass wir heute so alt werden, verdanken wir in erster Linie nicht der Medizin, sondern der Verbesserung unserer Lebensbedingungen. Und genau hier müssen wir ansetzen.

Rolf Rosenbrock

Rosenbrock ist Professor für Gesundheits- und Sozialpolitik und lehrt an der Berlin School of Public Health der Berliner Charité. Von 1999 bis 2009 war er Mitglied im Sachverständigenrat der Bundesregierung für die Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen. Seit April 2012 ist er Vorsitzender des Paritätischen Wohlfahrtverbandes und seit Anfang 2015 Präsident der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege.

Soviel ist das gar nicht

Durch das neue Präventionsgesetz stehen den Krankenkassen jährlich bis zu 500 Million Euro mehr für die Gesundheitsförderung zur Verfügung. Ist das der richtige Ansatz?

Von der Zahl darf man sich nicht täuschen lassen: 500 Million Euro sind gerade mal ein viertel Prozent der GKV-Ausgaben. So viel ist das also gar nicht. Aber das Zeichen, das die Politik damit setzt, ist durchaus richtig.

Die Ausgaben für die „Lebensweltprävention“ werden durch das Gesetz sogar verdreifacht. Was kann man sich darunter vorstellen?

Hier geht es nicht um Ernährungsunterricht für Kinder und Jugendliche oder um irgendwelche Gesundheits-Check-ups für Erwachsene. Die Prävention in Lebenswelten meint die Intervention vor Ort. Diese zielt darauf ab, das Lebensumfeld – also Kitas, Schulen, Betriebe oder Kieze – der Menschen zu verbessern und sie in diesen Prozess einzubeziehen.

Was meinen Sie mit „einbeziehen“?

In erfolgreichen Kita-Projekten entscheiden die Kinder beispielsweise über ihren Speiseplan mit. Wir sagen ihnen nicht „das darfst du essen“ und „das nicht“, sondern die Kiddies können selbst entscheiden, was in den Einkaufswagen kommt. Danach wird miteinander gekocht und gegessen.

Selbstbewusstsein stärken

Und wenn die Kinder immer nur Tiefkühlpizza wollen?

Das ist bis jetzt noch nicht vorgekommen. Und selbst wenn: Entscheidend ist, dass die Jungen und Mädchen das Gefühl haben, den Einkauf und das Essen mitgestalten zu können. Dieses Gefühl ist weitaus wichtiger, als dass sie jeden Tag grünen Salat aus der Bio Company auf dem Teller haben.

Gesetz zur Stärkung der Gesundheitsförderung und der Prävention

Das Präventionsgesetz wurde am 18. Juni vom Bundestag verabschiedet und tritt Anfang 2016 in Kraft. Vorgesehen ist, dass Krankenkassen jährlich bis zu 500 Millionen Euro ­mehr für die Gesundheitsvorsorge ihrer Versicherten ausgeben. Pro Kopf investieren sie dann 7 Euro statt der derzeitigen 3,09. Ein deutlicher inhaltlicher Schwerpunkt des Gesetzes liegt auf der Lebensweltprävention, für die voraussichtlich 280 Millionen Euro bereitgestellt werden. Mit 30 Cent pro Versichertem soll sich auch die Pflegeversicherung erstmals an den Präventionsmaßnahmen beteiligen. Koordiniert werden die Präventionsprojekte von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA).

Warum spielt das eine so große Rolle?

Wichtig ist die Erfahrung des Eingebundenseins und die der Selbstwirksamkeit …

Selbstwirksamkeit, was bedeutet das?

… Kinder entscheiden als Gruppe und sie merken, dass sie selbst durch ihre Entscheidung etwas bewirken. Nur, wenn ich das Gefühl habe, mein Umfeld mitgestalten zu können, verstehe ich, dass ich mein Leben – und damit auch meine Gesundheit – selbst in den Griff nehmen kann. Das sind persönliche Gesundheitsressourcen, die insbesondere Menschen mit einem niedrigeren sozioökonomischen Status oft nicht ohne Unterstützung entwickeln können.

Menschen miteinbeziehen

Wenn ich arbeitslos bin, habe ich das Gefühl, nicht für mein Leben verantwortlich zu sein?

Vielleicht nicht so krass. Aber Menschen, die beispielsweise Hartz IV bekommen, machen durchaus seltener die Erfahrung, ihr Leben selbst gestalten zu können. Sie erleben sich als abhängig vom Jobcenter und müssen für jede zusätzliche Leistung wie die Klassenfahrt der Tochter einen Antrag stellen. Sie müssen ihre Finanzen offenlegen, eventuelle Mehrausgaben rechtfertigen und können obendrein von der Behörde sanktioniert werden. Auf Dauer geht das massiv aufs Selbstbewusstsein.

Was kann die Lebensweltprävention hier bewirken?

Normalerweise versuchen wir die Menschen über ihre Communities zu erreichen. Arbeitslose sind untereinander jedoch meistens schlecht vernetzt. Gute Ansatzpunkte bietet daher das Quartiersmanagement.

Das sieht dann wie aus?

Nehmen sie beispielsweise einen dieser runtergekommenen innerstädtischen Plätze – dreckig, kaum Grün, ein paar Bänke, kein richtiger Bolzplatz für Kinder. Rentner wie junge Eltern meiden ihn wegen der ganzen Junkies und Alkis, die dort abhängen.

Dann hat das Quartiersmanagement den Platz neu gestaltet?

Ja. Jedoch nicht alleine, sondern gemeinsam mit den Anwohnern. Egal, ob Mieter, Kiddie, Junkie, Rentner, Ladenbesitzer – alle wurden in den Umbau miteinbezogen. Sie wurden in Gruppen eingeteilt, konnten sagen, wie sie sich den Platz zukünftig vorstellen und sich an der Umsetzung beteiligen. Das stärkt nicht nur die Selbstwirksamkeit, sondern fördert – wie bei den Kita-Kindern – das gegenseitige Verständnis und den Zusammenhalt. Heute haben die Kinder einen Bolzplatz, für die Rentner gibt es mehr Bänke zum Ausruhen und im Sandkasten finden Sie keine Spritzen mehr.

Gemeinschaftsgefühl erhöht die Lebenserwartung

Sie sprechen vom Zusammenhalt. Was hat dieser mit meinen persönlichen Gesundheitsressourcen zu tun?

Enorm viel. Wer sich als Teil eines verlässlichen sozialen Netzwerkes erlebt, bleibt länger gesund. Das gilt auch im Großen: Je weiter die Schere zwischen Arm und Reich auseinandergeht, desto mehr bröckelt das Gemeinschaftsgefühl und desto schlechter ist unsere Lebenserwartung.

Sie meinen die Lebenserwartung der Niedrigverdiener?

Nein. Ich meine auch die besser Gestellten. Egal, ob Hartz IV-Empfänger oder Professor: Wären sie in Schweden geboren und aufgewachsen – also in einem Land, in dem der Wohlstand nicht so ungleich verteilt ist, wie bei uns –, hätte jeder von ihnen eine höhere Lebenserwartung.

Wie wir in einer Gesellschaft miteinander umgehen, wirkt sich so massiv auf unsere Lebenserwartung aus?

Absolut. Fühlt eine Gesellschaft sich zusammengehörig, gibt es mehr Vertrauen und Kooperation. Die Bürger sind bereit, mehr Verantwortung zu übernehmen – gegenüber sich selbst, aber auch gegenüber ihren Mitmenschen.