Die neuen „Faktenboxen“ der AOK sollen für mehr Patientenautonomie sorgen. Doch wie unabhängig können Informationen einer Krankenkasse sein? Ein Gespräch mit dem Vorstandsvorsitzenden des AOK-Bundesverbandes, Jürgen Graalmann.
Redaktion: Die AOK-Faktenboxen versprechen dem Patienten unabhängige Informationen. Aber Krankenkassen sind doch nicht neutral?
Jürgen Graalmann: Als Krankenkasse sind wir gesetzlich dazu verpflichtet, unsere Versicherten zu informieren. Zudem wollen wir die Gesundheitskompetenz erhöhen. Wir haben die Faktenboxen nicht allein entwickelt, sondern in Zusammenarbeit mit dem Harding-Zentrum für Risikokompetenz am Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung. Als AOK halten wir uns hier sehr bewusst mit eigenen Wertungen zurück.
Ein Ausrufezeichen mit dem Hinweis „kein Nutzen“ sieht für mich ziemlich eindeutig nach einer Bewertung aus.
Wir sagen den Betroffenen nicht, was sie machen sollen, sondern benennen und veranschaulichen allein die wissenschaftliche Evidenz – also das, was die Studienlage hergibt. Es gibt beispielsweise gute Gründe, einem 60-Jährigen zur jährlichen Grippeimpfung zu raten; in den Faktenboxen finden Sie solch klare Empfehlung trotzdem nicht.
Gesundheitskompetenz stärken
Im Internet lässt sich heute doch alles googeln …
Das Problem ist, dass viele Menschen die Informationen, die sie im Netz finden, nicht einschätzen können. Bis zu 60 Prozent der Versicherten können mit dem, was Sie im Internet lesen, nicht umgehen. Sie fühlen sich überfordert. Die Faktenboxen geben den aktuellen Stand der Wissenschaft wieder und das in einer leicht lesbaren und kompakten Form. Medizinische Fachausdrücke sind tabu.
Es gibt allerdings eine Menge Zahlen und Tabellen. Kann das wirklich jeder richtig einordnen?
Vor der Veröffentlichung hat das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung die Faktenboxen an Patientengruppen getestet. Das Ergebnis war eindeutig positiv.
Masernimpfung, Stoßwellentherapie, Kinderkrankengeld – wie haben Sie die Themen ausgewählt?
Nach Relevanz für den Patienten. Wir haben vor allem geschaut, mit welchen Fragen unsere Versicherten sich am häufigsten an uns wenden und was sie auf unserer Website am meisten anklicken.
War das Ihr einziges Kriterium?
Nein. Danach haben Experten geprüft, ob zu den Themen gut fundierte Aussagen getroffen werden können. Entscheidend war immer die vorliegende wissenschaftliche Evidenz.
Faktenboxen
Die Faktenboxen der AOK geben den aktuellen Wissensstand der Forschung zu einem Thema wieder. Dabei sind sie knapp in ihrer Darstellung und auch für den Laien verständlich. Eine ähnliche Form der Patienteninformation bieten auch das Harding-Zentrum für Risikokompetenz sowie die Bertelsmann Stiftung an.
Beispiel: Faktenbox zum Thema “Röntgen bei Rückenbeschwerden” als PDF zum Herunterladen.
Kein Gespräch auf Augenhöhe
Ist es richtig, den Patienten immer mehr zu einem „Gesundheitsexperten“ zu erziehen?
Das ist gar nicht unser Anspruch. Der Begriff „Experte“ suggeriert außerdem die Vorstellung eines mündigen Patienten, der im Zweifel auch allein entscheiden könnte – daran glaube ich nicht.
Warum nicht?
Das würde bedeuten, dass ich als Patient bei allen Krankheiten und Therapien auf Augenhöhe mit dem Arzt sprechen kann. Das wird nie der Fall sein – und das ist auch in Ordnung. Was wir wollen, ist ein gut informierter Patient, der die Entscheidungen des Arztes auch mal kritisch hinterfragt.
Das werden Ärzte nicht gerne hören.
Auch Ärzte können nicht über alles, was aktuell in der Forschung passiert, informiert sein. Spricht der Patient ihn darauf an, was er in den Faktenboxen gelernt hat, ist das kein Zeichen von mangelndem Vertrauen. Vielmehr können beide gemeinsam klären, welche Behandlungsschritte die richtigen sind. Die Faktenboxen richten sich übrigens auch an die Ärzte.
Früherkennung ohne Nutzen
Aus einer der Faktenboxen geht klar hervor, dass die jährliche Ultraschalluntersuchung zur Früherkennung von Eierstockkrebs nichts bringt. Warum werden solche Leistungen dann überhaupt noch angeboten?
Dieses Angebot ist eine IGeL-Leistung. Darauf, ob ein Arzt solche Selbstzahlerleistungen anbietet oder nicht, haben wir keinen Einfluss. Als Kasse können wir die Leute nur darüber informieren, welchen wissenschaftlich belegten Nutzen eine Leistung hat – oder auch nicht.
Und das Röntgen bei Rückenschmerzen. Das ist eine Leistung, die Sie bezahlen und die anscheinend ebenfalls nichts bringt.
Es stimmt, dass bei Rückenbeschwerden viel zu schnell geröntgt wird. Manchmal ist die Untersuchung jedoch tatsächlich notwendig. Sie zu bezahlen, ist also vollkommen in Ordnung. Wir müssen Ärzten und Patienten nur bewusst machen, dass das Röntgen bei allgemeinen Rückenschmerzen nicht zur Routine werden darf.
Gibt es schon erste Reaktionen auf die Faktenboxen?
Ja, und die sind eindeutig positiv. Die Klickzahlen sind enorm, dabei sind die Faktenboxen gerade mal ein paar Wochen online. Auch die Ärzte geben sehr positives Feedback. Und nicht nur das: Sie schlagen sogar selbst neue Themen vor.