Der Verlag an der Ruhr hat eine Programmsparte zum Thema Altenpflege aufgebaut. Die Redakteurin Evelyn Wagenblast erzählt uns, was die Bücher von anderen unterscheidet und was Hutschenreuther-Porzellan mit der Pflege von Menschen mit Demenz zu tun hat.
Redaktion: Der Verlag an der Ruhr startete ursprünglich mit Lehr- und Lernmaterialien für Kinder und Jugendluche sowie Pädagogen. Warum nun auch das Thema Altenpflege?
Evelyn Wagenblast: In unserem Verlag reagieren wir auch auf Entwicklungen in der Bevölkerung – und die wird immer älter. Die Fokussierung auf Senioren und speziell auf Demenzerkrankungen war da eine logische Konsequenz. Außerdem passt das Thema Altenpflege zu unserem Verlagsmotto: „Keiner darf zurückbleiben“.
An wen richtet sich das neue Altenpflege-Programm?
Im Grunde an jeden, der Menschen mit Demenz betreut. Das können Fachkräfte in Pflegeeinrichtungen, Ergotherapeuten oder Musikgeragogen sein, aber auch pflegende Angehörige oder Ehrenamtliche. Unsere Materialien sollen ihnen helfen, die Zeit, die sie mit den Betroffenen verbringen, sinnvoll zu nutzen.
Zeit ist in Pflegeeinrichtungen ein rares Gut.
Das stimmt. Ein Alltagsbegleiter, der sich im Laufe eines Vormittags um 15 bis 20 Bewohner kümmern muss, dem bleiben am Ende kaum mehr als zehn Minuten für die Einzelbetreuung. Für solche Fälle haben wir die „5-Minuten-Vorlesegeschichten“ entwickelt. Ein wenig Zeit ist immer noch besser als gar keine.
„Die Erinnerung aktivieren“
Und was meinen Sie mit „sinnvoll“?
Menschen mit Demenz kämpfen mit dem Verlust ihrer kognitiven Fähigkeiten. Deshalb ist es wichtig, das Gedächtnis, die Sprache, aber auch die Motorik zu trainieren. Hierfür gibt es unterschiedliche Möglichkeiten. Eine davon ist Puzzeln – allerdings nicht mit einem normalen Kinderpuzzle.
Was unterscheidet ein Puzzle für Menschen mit Demenz denn von einem für Kinder?
Sie sind größer und bestehen aus besonders festem Karton. Außerdem orientieren sich die Motive an den Lebenswelten der Betroffenen. Statt süßen Tierillustrationen ist dann beispielsweise das Foto einer Hutschenreuther-Kaffeetasse zu sehen. Die Bilder ermuntern die Senioren zu erzählen; sie aktivieren die Erinnerung.
Was meinen Sie damit konkret?
Das weiße Blümchen-Porzellan der Serie Maria Theresia Mirabell kennen die meisten. Bei vielen stand das Service zu Hause im Schrank und nur sonntags oder zu besonderen Anlässen kam es auf den Tisch. Da ergeben sich ganz beiläufig Fragen wie „Was gab es bei Ihnen sonntags zum Kaffee?“ oder „Was ist Ihr Lieblingskuchen?“ Gerade für Demenzkranke ist Biografiearbeit unheimlich wichtig – oft hilft sie auch, schmerzhafte Erlebnisse zu verarbeiten.
Im Kartenspiel „Erzählen Sie doch mal“ werden teilweise sehr persönliche Fragen gestellt, etwa ob die Person schon einmal in ihrem Leben ihre Heimat verlassen musste. Kann das nicht nach hinten losgehen?
Die meisten Menschen mit Demenz erzählen unheimlich gern von früher – auch von den schweren Zeiten. Aber klar: Wenn die Erinnerungen zu schmerzhaft werden, ist es wichtig, dass der Betreuer empathisch reagiert und die betroffene Person wieder in die Gegenwart holt.
Leseprobe: „5-Minuten-Vorlesegeschichten“
Interkulturelle Pflege als neue Herausforderung
In Ihrem Programm haben Sie auch ein Buch mit „Duftgeschichten“. Was hat es damit auf sich?
Die Erzählungen sollen die Sinne aktivieren. Menschen mit Demenz sind gegenüber Gerüchen, die in ihrem Leben eine wichtige Rolle gespielt haben, besonders sensibel. Die Vorlesegeschichten verbinden die Erzählungen daher mit den Beschreibungen verschiedener Düfte. Außerdem wird jede Geschichte mit Ideen zur Sinnesaktivierung und einfach umsetzbaren Rezepten aus der Aromapflege ergänzt.
Sie sagen, der Verlag an der Ruhr reagiert mit diesem Programm auf Entwicklungen in der Bevölkerung. Deutschland ist zu einem Einwanderungsland geworden. Haben Sie Angebote speziell für Menschen mit Migrationshintergrund?
Tatsächlich überlegen wir gerade, eine CD mit türkischen Liedern zusammenzustellen, und ich bin sicher, dass wir unser Programm zukünftig noch weiter in diese Richtung ausbauen werden. Außerdem steht ein Generationenwechsel vor der Tür, der auch die Pflege von Menschen mit Demenz betrifft.
Das heißt, die Biografiearbeit muss sich an die sich verändernden Lebenswelten anpassen.
Richtig. Um bei dem Beispiel Musik zu bleiben: Noch singen wir mit den Senioren deutsche Volkslieder, beliebter sind aber längst die Schlager der 1950er-Jahre und bald werden es vermutlich die Hits der Rolling Stones sein. Und wer weiß, vielleicht haben wir irgendwann auch ein Puzzle mit dem Motiv eines Smartphones im Programm.