„Das ist wie Improvisationstheater“

Chantal Louis hat ein sehr offenes und humorvolles Buch über das Leben ihrer Oma in einer Demenz-WG geschrieben. Uns erzählt sie, was die Erkrankung ihrer Großmutter mit ihr selbst macht und wie sie lernt, mit ihr umzugehen.

Redaktion: Demenz ist für die meisten ein Schreckgespenst. Warum wollten Sie ausgerechnet darüber schreiben?

Chantal Louis: Weil die WG, in der meine „Omma“ lebt, toll ist. Das habe ich meinen Freunden erzählt – und fast niemand kannte das Modell.

Und das wollten Sie ändern.

Richtig. Außerdem hänge ich sehr an meiner Oma. Ich hatte sehr junge Eltern. Bis ich neun war, lebte ich deshalb bei meinen Großeltern. Mit dem Buch wollte ich ihr auch ein Denkmal setzen.

Was finden Sie so toll an dem Modell Demenz-WG?

Das Persönliche. Pfleger und Bewohner, aber auch die Angehörigen lernen sich gegenseitig kennen und schätzen. Man vertraut einander und wächst sich gegenseitig ans Herz. Außerdem haben die Pfleger hier viel mehr Zeit, um auf die Bedürfnisse der Bewohner einzugehen.

© Chantal Louis

© Chantal Louis

Zur Person

Chantal Louis ist Journalistin, Autorin mehrerer Bücher und arbeitet seit 1994 als Redakteurin bei der Frauenzeitschrift EMMA. Für ihre Reportage über die Bergmannsiedlung, in der sie aufgewachsen ist, erhielt sie den Internationalen Journalistenpreis der Ruhr. Ihr neuer Roman „Ommas Glück. Das Leben meiner Großmutter in ihrer Demenz-WG“ ist 2015 erschienen.

Die Welt des anderen ernstnehmen

Das klingt nach einer großen, glücklichen Familie.

Irgendwie ist es das tatsächlich – jedenfalls in der Wanne-Eickeler WG meiner Großmutter. Eine Pflegerin erzählte kürzlich, dass sie, wenn sie keinen Dienst hat, in der WG anruft, um zu hören, wie es den Leuten geht. Sicher gibt es auch mal Krach. Demente Menschen haben ja manchmal sehr eigenwillige Vorstellungen von der Realität.

Wie meinen Sie das?

Einige Demenzkranke werden beispielsweise schnell ungerecht. Hat meine Oma sich etwa in den Kopf gesetzt, dass genau dieser eine Teller mit dem roten Rand ihr gehört, darf Hilde ihn nicht nehmen. Tut sie es doch, ist das Geschrei groß. Das klingt jetzt zwar ein bisschen makaber, aber der Krach ist dafür dann auch schnell wieder vergessen.

Wie gehen Sie damit um?

Ich nehme ihr Empfinden ernst. Ganz gleich, worum es geht.

 

Haben Sie ein Beispiel?

Oft fragt sie, wo denn „der Opa schon wieder steckt“. Dann erkläre ich ihr nicht, dass er seit 25 Jahren tot ist – denn für sie ist er das nicht. In dem Moment holt er halt Brötchen oder ist auf Schalke beim Fußball.

Und wie fühlen Sie sich dabei?

Für mich ist das ein bisschen wie Improvisationstheater. Ich spiele einfach mit. Versuche, ihre Stimmung aufzufangen. Irgendwann vergisst sie, dass sie auf Opa wartet.

Und wenn nicht?

Dann lenke ich sie ab. Frage sie vielleicht, ob sie auf Toilette muss oder ob sie den Pulli, den sie anhat, selbst gestrickt hat. Natürlich gibt es auch Situationen, die sich nicht so einfach auflösen lassen. Dann bin ich manchmal die, die auf die Toilette geht und dort tief durchatmet. Es gibt eben nicht nur gute Tage.

Vorsicht mit der Hähnchenkeule

Weiß Ihre Oma, dass sie krank ist?

Tatsächlich ist ihre Demenz sehr langsam vorangeschritten, den Übergang hat sie zum Glück nicht mitbekommen. Meine Großmutter lebte immer schon in ihrer eigenen Welt und hatte ein recht spezielles Verhältnis zur Vergangenheit.

Wie meinen Sie das?

Sie erzählte gern von früher, durchaus in ihrer eigenen Interpretation. Dass wir alle ihre Geschichten auswendig kannten, störte sie kein bisschen. Sie erzählte einfach immer wieder von vorne. Überhaupt lebte sie immer sehr in ihrer eigenen Welt und ließ oft keine andere Sicht auf die Dinge gelten. Das war manchmal ganz schön anstrengend, erwies sich aber als Segen, als sie dement wurde. Denn ihr eigenwilliger Blick auf die Welt änderte sich im Grunde nicht

So ein „Glück“ hat vermutlich nicht jeder in der WG?

Nein. Ursula ist beispielsweise noch äußerst fit. Sie ist neu in der WG, geht sogar für die anderen einkaufen und kocht für alle.

Das ist doch toll.

Leider vergisst sie mitunter, dass sie die Hähnchenkeulen aus dem Sonderangebot bereits dreimal gekauft hat. Hindert eine der Pflegerinnen sie dann daran, ein viertes Mal runterzugehen, wird sie sauer. Sie fühlt sich in ihrer Autonomie eingeschränkt und das Schlimmste: Ihr wird bewusst, dass sie sich an die anderen drei Einkäufe nicht erinnert.

Wieso darf sie kein viertes Mal in den Supermarkt?

Das geht vielleicht einmal die Woche, aber nicht fünfmal. Denn erstens ist das Gefrierfach schon voll mit Hähnchenkeulen, und außerdem gibt sie ja für ihre Hamsterkäufe das Haushaltsgeld der WG aus.

In der WG ist man nie allein

Wie hilft Ihnen die WG dabei, mit der Krankheit umzugehen?

Sie hilft mir, das Positive zu sehen. Also nicht das, was nicht mehr geht, sondern das, was alles noch geht. Außerdem ist die Stimmung meist sehr gut. Oft sitze ich einfach mit den Bewohnerinnen und den Pflegerinnen in der Küche, trinke Tee und quatsche. Außerdem gibt es immer etwas zu organisieren.

Was zum Beispiel?

Die Balkonbepflanzung im Frühjahr. Man kann aber auch einfach mal das Waffeleisen mitbringen und eine Runde backen. Schön ist, dass wir als Angehörige keine passive oder gar hilflose Rolle haben. Braucht die WG etwa einen neuen Fernseher oder einen neuen Herd, entscheiden wir als Angehörige, was gekauft wird. Wir sind dann natürlich auch für die Installation zuständig.

Viel Zeit zum Grübeln bleibt da nicht.

Genau. Außerdem lachen wir unheimlich viel. Bis jetzt habe ich die WG immer mit einem guten Gefühl verlassen.

Erkennt Ihre Oma Sie eigentlich noch?

Zum Glück ja. Sie sagt mir auch immer, wie lieb sie mich hat. Trotzdem merke ich, dass sie Stück für Stück abbaut. Ihr Witz und ihre Persönlichkeit sind aber noch da.

Ein schöner Gedanke

Sie sind sich also noch sehr nahe.

Ja. Vielleicht ist das auch ein Grund dafür, dass sie uns alle noch erkennt.

Wie meinen Sie das?

Das ist natürlich nur Spekulation, aber ich glaube, meine Oma will uns noch nicht loslassen. Den Gedanken finde ich tröstlich.