Im Rausch durch’s Studentenleben

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Studentenpartys, Kneipenabende, WG-Treffen: Studenten finden fast jeden Tag einen Grund zum Trinken. Und irgendwie gehört es ja dazu – im freien, selbstbestimmten Leben. Aber wann ist es zu viel?

Sechs Wochen lang war er ständig betrunken. Zwei Flaschen Wodka am Tag und die Examensarbeit. Endlich konnte er um sich herum alles vergessen. Der Tunnelblick machte ihn zum Arbeitstier und ließ ihn den Druck aushalten. Er freute sich über jedes komplexe Satzgefüge und darüber, dass der Professor später Probleme hat, die Arbeit zu lesen. Christian Haarmann* ist seit zwei Jahren trockener Alkoholiker. Er ist „clean“, wie er sagt.

Studenten trinken mehr als andere

Als Student rutschte er in die Abhängigkeit. Das ist laut einer Studie von Professorin Renate Soellner keine Seltenheit. Sie hat an der Universität Hildesheim das Suchtverhalten der Studierenden untersucht. 1838 Personen – das sind knapp 28 Prozent aller Studenten an der Hochschule – haben freiwillig an der Studie teilgenommen. Das Ergebnis: Etwa 18 Prozent der Befragten gehören zur Risikogruppe. „Studenten trinken mehr als andere Gruppen im selben Alter“, sagt Soellner. Aber woran liegt das? Das Studentenleben, die erste eigene Wohnung, die neu gewonnene Freiheit und das doch eher unstrukturierte Leben. Unter der Woche können Studenten so feiern wie andere nur am Wochenende. Da kommt das ein oder andere Glas Alkohol zusammen.

So war es zu Anfang bei Christian Haarmann. Dabei blieb es nicht bei Alkohol. In seiner ersten WG wurde außerdem viel gekifft. Die Schwelle, sich selbst zu maßregeln, wurde immer geringer: „Die anderen taten es auch, warum sollte das für mich ein Problem sein?“

Alkohol als Belohnung

Das ist in vielen Fällen die Schwierigkeit. Nicht jeder Mensch ist suchtgefährdet. „Es spielen drei Dinge mit: Wie ist meine Persönlichkeit, wie mein Umfeld und welche Suchtmittel konsumiere ich“, sagt Benjamin Becker vom Suchthilfeverband Blaues Kreuz. Christian Haarmann kann heute rückblickend seine Sucht analysieren. „Es lag an einer bereits in der Kindheit angelegten Beziehungs- und Persönlichkeitsstörung und einem dadurch bedingten unterschwelligen Leistungsdruck.“ Schon während der Schulzeit hat er mehr Alkohol als seine Klassenkameraden getrunken. Er wollte unbedingt Medizin studieren. Der Notendurchschnitt musste stimmen. In der Uni ließ der Druck nicht nach. Es wurde fast noch schlimmer.

Das Glas Rotwein am Abend, damit sich die Nerven am Abend vor der Prüfung beruhigen: Studenten haben ihre Tricks und Kniffe, um in Prüfungsphasen den Dauerstress auszuhalten. „Es ist gefährlich, wenn es zum Ritual wird, wenn ich nur mit Alkohol einschlafen kann“, sagt Becker. „Oder wenn ich den Alkohol als Belohnung nach einem anstrengenden Tag brauche.“

Das richtige Maß finden

Es ist eine Gratwanderung. Alkohol zu trinken ist prinzipiell nicht schlecht, die Menge und die Regelmäßigkeit machen es aus. Zwei alkoholfreie Tage pro Woche sollten Studenten mindestens einhalten. „Es ist nicht so, dass alle Studierenden sich die Kante geben“, sagt Soellner. 65 Prozent der Befragten trinken im Durchschnitt höchstens einmal in der Woche Alkohol. Dafür ist das Binge Drinking verbreitet. Auf Deutsch: exzessiver Alkoholkonsum. „Die Hälfte der Befragten hat angegeben, dass sie in den letzten 30 Tagen mehr als fünf alkoholische Getränke an einem Abend getrunken hat.“

So können Studenten ihr Suchtverhalten testen

Professorin Soellner hat mit der Delphi-Gesellschaft die Internetseite dein-masterplan.de zum Thema Suchtmittel im Studium konzipiert und evaluiert. Hier gibt es eine Online-Beratung, Tests über den eigenen Alkoholkonsum sowie Informationen und Statistiken über die gängigsten Suchtmittel.

Christian Haarmann war nie der Partytrinker. Er machte es eher allein – ohne Publikum. Über die Jahre hat er sich ein Lügenkonstrukt aufgebaut. Bevor er zu Freunden gegangen ist, hat er alleine vorgeglüht. Seine langjährige Freundin habe lange weggeschaut und sich eingeredet, dass nach dem Examen alles wieder normal wird.

Die Sucht ist ein schleichender Prozess

Alkohol gilt als Kulturdroge. Sie ist akzeptiert und wird vom Großteil der Gesellschaft im Vergleich zu anderen Drogen als weniger gefährlich eingestuft. Dabei sind laut der Drogenbeauftragten der Bundesregierung etwa 1,3 Millionen Menschen alkoholabhängig, und 74 000 sterben jährlich an den Folgen. „Man verniedlicht Alkohol schnell. Wie oft sagt man: ‚Lass mal ein Bierchen oder Weinchen trinken’“, erklärt Becker. Der Durchschnittsdeutsche trinkt laut Deutscher Hauptstelle für Suchtfragen im Jahr eine Badewanne voll Alkohol, das sind über 135 Liter. Alkohol gehört zum Leben dazu. Vor allem zum Studentenleben.

Aber wann ist die Grenze erreicht? „Vor der Suchtphase kommt erst noch die Missbrauchsphase. Aus dieser kann man es aus eigener Kraft herausschaffen“, erläutert Becker. Je mehr Gedanken um den Konsum kreisen, desto gefährlicher ist es. „Anzeichen sind, wenn man seine gesamten Aktivitäten rund um den Konsum ausrichtet oder in Momenten trinkt, wenn man kognitiv klar sein muss“, erklärt Soellner. Das gilt etwa für eine Prüfung. Es ist meistens ein schleichender Prozess. Wenn der Konsum regelmäßig wird und die Promillezahl höher, sollten spätestens die Alarmglocken läuten.

Nicht wegschauen

Christian Haarmann hat vor der Abschlussprüfung getrunken. Nur ein bisschen zum Runterkommen. Dadurch war er einfach lockerer. Aber keiner hat ihn aus seiner Sucht herausgeholt oder ihn auf seine Probleme angesprochen. Freunde müssen einem Suchtabhängigen den Spiegel vor das Gesicht halten, die Wahrheit aussprechen. Becker empfiehlt, das Thema in einer vertrauten Atmosphäre anzusprechen. „Es muss respektvoll und wertschätzend sein, aber mit klarer Kante.“ Im Endeffekt beginnt jede Besserung mit der Einsicht des Süchtigen. „Ohne die können Freunde nicht viel helfen.“

Christians Haarmanns Einsicht kam kurz vor der Abgabe der Examensarbeit. Jahrelang hat er seine Leistung mit Alkohol und Drogen gepusht. Er merkte langsam seinen körperlichen Verfall. Sein Ergebnis: Eine 1,0 in der Examensarbeit und jahrelange Therapien, um der Sucht widerstehen zu können.

Von Nora Wanzke (dpa)