Lauf in die Unfreiheit

Ein Mann läuft und läuft – ohne zu wissen wohin und so lange, bis er nicht mehr kann. In seinem Roman „Ins Freie“ entwirft der amerikanische Schriftsteller Joshua Ferris das Bild eines New Yorker Anwalts, für dessen Krankheit es keine Heilung gibt. 

Tim Farnsworth steht auf und läuft los. Vor einer Minute saß er noch in Anzug und Krawatte im Büro, wälzte Akten und sprach mit seinen Mandanten. Doch noch während er seinem Klienten die nächsten Schritte des Gerichtsverfahrens erklärt, greift er nach seinem Mantel und verlässt den Raum. Für Erklärungen bleibt keine Zeit.

© btb-Verlag

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Ein Gewaltmarsch

Es ist kein einfaches Laufen, das der Autor Joshua Ferris in seinem Roman „Ins Freie“ beschreibt. Tims Wanderungen haben nichts mit Sport zu tun, es sind Gewaltmärsche. Seine Beine laufen einfach los –­ wohin weiß er nicht, so lange, bis er müde und apathisch in den Außenbezirken New Yorks zusammenbricht.

Tim Farnsworth ist Mitte 50 und einer der besten Anwälte seiner Kanzlei. Er ist Teilhaber, liebt seinen Job und verdient mehr Geld, als er zum Leben braucht. Er hat ein großes Haus, eine Frau und eine Tochter, die er beide liebt. Doch das zwanghafte Verhalten schränkt sein Leben immer weiter ein ­– besonders auf der Arbeit fällt es ihm zusehends schwerer seine plötzlichen Aufbrüche zu erklären.

Er und seine Frau Jane haben alles versucht. Sie waren bei Therapeuten und Neurologen, ließen Hirnströme messen und MRTs erstellen. Stundenlang saßen sie in Arztpraxen, pilgerten von Spezialist zu Spezialist ­­– aber niemand konnte Tim helfen. Keine Diagnose, kein Psychopharmakon konnte seinen Laufdrang aufhalten. Kein Arzt konnte der Störung einen Namen geben.

Zwischendurch hoffen Tim und Jane, dass der Zwang von selbst wieder verschwindet. Manchmal vergehen zwei bis drei Monate, manchmal Jahre, bis der nächste Schub einsetzt. Doch dann klingelt wieder Janes Handy und sie hört Tim sagen: „Es geht wieder los.“

Krankheit ohne Hoffnung

Aus drei Perspektiven schildert Ferris die Auswirkungen, die die unbekannte Krankheit auf das Leben der Familie Farnsworth hat: Tim, Jane und ihre Tochter Becka. Sie alle leiden unter dem zwanghaften Verhalten für das es keine Erklärung gibt.

Die 17-jährige Becka kennt ihren Vater im Grunde nur erschöpft. Entweder ist er müde von der Arbeit oder ausgelaugt und kaum noch ansprechbar von der Anstrengung des Marsches. Seitdem sie denken kann, klappert sie mit ihren Eltern Spezialisten ab und begleitet ihre Mutter auf der Suche nach ihrem Vater. Für die Probleme der Tochter hat die Familie keine Zeit – seit ihrer Kindheit sitzt Becka auf dem Rücksitz.

Jane versucht alles, um ihrem Mann zu helfen. Doch das ständige Suchen, die Ungewissheit, ob er beim Laufen überfahren wird oder am Ende in einem Straßengraben liegt und erfriert, belasten sie immer mehr ­­– besonders da die Strecken, die Tim zurücklegt, von Mal zu Mal länger werden. Eine Zeit lang versucht sie, ihn über GPS zu orten. Doch ihr Mann vergisst immer wieder, das Gerät einzuschalten. Sie fesselt ihn sogar ans Bett, aber auch dies ist keine Dauerlösung.

Wie Frau und Tochter leidet auch Tim unter der Krankheit. Seine Märsche kann er zusehends weniger kontrollieren. Er nimmt ab, zieht sich Erfrierungen bis hin zum Wundbrand zu – schon früh verliert er zwei seiner Zehen –, leidet an Depressionen und muss schließlich seinen Job aufgeben.

Der Zwang ist stärker

Zu Beginn versuchen Tim und Jane noch, die Krankheit zu kontrollieren. Mit dicker Thermokleidung wappnen sie ihn gegen die Kälte, stopfen seinen Rucksack mit Energy-Riegeln voll und hören nicht auf, nach einer Diagnose zu suchen. Doch am Ende gewinnt Tims Körper. Der Zwang zu laufen erweist sich als stärker als all ihre Bemühungen. Irgendwann hört er auf, sich von Jane suchen zu lassen und wirft sein Handy in den Müll.

Am Ende bleibt offen, welche Aussage Ferris mit „Ins Freie“ treffen möchte ­­­– besonders da sich auf Tims letzter Wanderung apokalyptische Vorzeichen immer weiter verdichten. Schildert Ferris den Zwang zu Beginn noch nüchtern-sachlich, so stürzen am Ende die Vögel vom Himmel und glaubt Tim, über einen Teppich toter Bienen zu gehen. Die Wandermanie des Anwalts als den Ausbruch eines von Ehrgeiz getriebenen Büromenschen aus der Enge der postmodernen Arbeitswelt zu lesen, scheint dabei eine zu einfache Parabel zu sein.

Was bleibt, ist das schattenhafte Porträt einer Familie, deren Leben Stück für Stück von dem Zwang aufgezehrt wird. Keiner von ihnen kann sich der namenlosen Krankheit entziehen. Doch obwohl Tim seine Familie bereits verlassen hat und egal wie weit weg er sich befindet, irgendwann kehrt er immer zu Jane zurück – auch wenn sie sich am Ende kaum noch wiedererkennen.

Information: Der Roman “Ins Freie” von Joshua Ferris ist bei Random House erschienen. Das Taschenbuch kostet 9,99 Euro.