Schizophrenie – eine Krankheit, um die sich viele Mythen ranken. Sie klingt nach Dr. Jekyll und Mr. Hyde, nach Menschen mit zwei Persönlichkeiten. Doch was steckt wirklich hinter der Erkrankung? Und wie bekommen Betroffene Hilfe?
Es begann daheim im Badezimmer. Anna Kunze, 16 Jahre alt, putzte das Bad wie jeden Mittwoch – da plötzlich: „Anna!“ „Anna!“ Wer rief nach ihr? Ihre Eltern waren unterwegs, ganz sicher. Lief der Fernseher noch? Anna rannte durch das Haus, wurde panisch, fand niemanden. Die Stimme? Nur in ihrem Kopf. Laut und stark, als würde jemand direkt hinter ihr stehen. Es war der Anfang von Annas Schizophrenie.
Die 22-jährige Dresdnerin ist eine von rund 500.000 Menschen in Deutschland, die mit der Diagnose leben. Jährlich erkranken circa 8200 Menschen neu an Schizophrenie. Bei Frauen bricht die Krankheit statistisch gesehen zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr aus. Bei Männern zeigt sie sich meist früher: zwischen dem 15. und 25. Lebensjahr.
Die Krankheit wird oft zu spät diagnostiziert
„Bei der Schizophrenie nehmen Menschen Dinge wahr, die es in Wirklichkeit nicht gibt“, erklärt Sandeep Rout, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie am Vivantes Klinikum Neukölln in Berlin. „Es ist eine Spaltung zwischen Erleben und Realität. Keine Persönlichkeitsspaltung, wie viele Menschen denken.“
Zu den Hauptsymptomen gehörten akustische Halluzinationen, Wahnideen, Gedanken, die nicht der Realität entsprechen, und Störungen der Ich-Wahrnehmung. Betroffene haben das Gefühl, andere könnten ihre Gedanken lesen oder Besitz von ihrer Persönlichkeit nehmen.
Die Tücke der Erkrankung: Zwischen Ausbruch und Diagnose liegen im Schnitt fünf Jahre. Auch bei Anna Kunze blieb die Krankheit lange unentdeckt – sie schlich sich in ihr Leben, verdunkelte es geradezu. In der Schule fühlte sich das Mädchen gemobbt, dann starb ihre Großmutter. Anna Kunze stürzte in eine seelische Krise. Mit 14 Jahren wurde sie zum ersten Mal wegen Depressionen im Krankenhaus behandelt.
Die Stimme in ihrem Kopf, eine Frauenstimme, übernahm immer häufiger die Macht. Sie beschimpfte Anna Kunze. „Du bist dumm, Anna!“ „Anna, Du bist hässlich!“ Und dann war plötzlich die ganze Welt gegen sie. Anna Kunze glaubte, ihre Freundin wolle ihre Seele stehlen. „Sie benutzte in der Schule die gleichen Stifte wie ich. Das war für mich ein eindeutiges Zeichen.“
Auch ihrer Familie traute Anna Kunze nicht mehr. „Ich war sicher, dass meine Schwester eine Strahlung auf mich ausgerichtet hat, damit ich verrückt werde.“ Später, als sie häufig bei ihrem Freund übernachtete, war sie überzeugt, dass die Nachbarn das Wasser vergiftet hatten.
„Das sind akute Psychosen“, sagt Professor Hans-Peter Volz, Ärztlicher Direktor am Krankenhaus für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatische Medizin Schloss Werneck in Bayern. „Um diese Phasen zu verhindern, ist Früherkennung wichtig. So sinkt das Risiko für einen chronischen Verlauf.“
Schizophrenie früh zu erkennen, sei jedoch schwierig. „Im Vorstadium zeigen sich meist unspezifische Symptome wie Ruhelosigkeit, Schlafstörungen, grundlose Freudlosigkeit, Leistungseinbrüche oder Anspannungsgefühle. Betroffene fühlen sich häufig von anderen ausgeschlossen, beäugt und missverstanden“, beschreibt Volz.
Viele Betroffene nehmen Medikamente
Wer solche Veränderungen an sich erkennt, sollte sich Hilfe suchen, rät Sandeep Rout. Psychiater und psychiatrische Kliniken seien die richtigen Ansprechpartner. Die erste Maßnahme: Stressfaktoren aus dem Leben zu streichen. „Betroffene sollten auf genügend Schlaf achten und Reizüberflutungen vermeiden“, rät Rout. Alkohol und Drogen könnten ebenfalls einen akuten Schub auslösen. Eine besondere Rolle in der Vorbeugung spiele auch ein stabiles Umfeld – viel Geduld und Verständnis der Angehörigen.
Anna Kunze hatte bereits mehrere akute Schübe hinter sich, bis sie die Diagnose erhielt. Seitdem nimmt sie Antipsychotika und Antidepressiva. „Schizophrenie ist heute mit Medikamenten gut behandelbar. Eine Kombination mit Psychotherapie und weiteren therapeutischen Verfahren wie Ergotherapie ist meist optimal“, erklärt Volz.
Auch Anna Kunzes Schizophrenie hat sich seit der Therapie verbessert. Akute Schübe kommen zwar vor, sind aber selten geworden. Medikamente wird sie jedoch vermutlich ihr Leben lang nehmen müssen. Die Stimme aus dem Badezimmer? Sie hört sie weiterhin, eine zweite ist dazugekommen.
Anna Kunze hat ihnen Namen gegeben – Eva und Demian, nach ihrem Lieblingsbuch von Hermann Hesse. „Nach all den Jahren habe ich eine Beziehung zu den Stimmen aufgebaut“, erklärt Kunze. „Natürlich wünsche ich mir Distanz, aber gleichzeitig gehören sie zu mir.“
Anna Kunze hat gelernt, mit ihrer Erkrankung zu leben, ist sogar Mitbegründerin des EX-In Sachsen, eines Vereins für Betroffene, die sich untereinander helfen. Volz sagt: „Das ist die richtige Einstellung. Die Menschen sollten sich auf keinen Fall verkriechen.“ Es gibt keine Schizophrene, sagt er – „nur Menschen mit Schizophrenie“. Die Krankheit ist zwar Teil ihres Lebens. Aber eben auch nur ein Teil.
Von Sandra Arens (dpa)