„Stopp die Gewalt in dir“

„Stopp die Gewalt in dir“

© dpa

Menschen mit einer Psychose leben in ihrer ganz eigenen Welt. Sie hören Stimmen, haben Wahnvorstellungen oder fühlen sich verfolgt – und manche von ihnen werden dann gewalttätig. Damit sie keine Straftat begehen, hilft einigen von ihnen eine neuartige Ambulanz.

Er hatte Amokfantasien und war schon als Kind gewalttätig gegenüber Mitschülern und Angehörigen. Später trank er zu viel Alkohol, verletzte sich selbst. Mehrfach kam er in psychiatrische Behandlung, doch nach der Entlassung setzte er die Medikamente stets wieder ab. Er sah nicht ein, dass er krank war. Das Risiko war groß, dass der 25-Jährige seine Gewaltfantasien eines Tages in die Tat umsetzt. Damit das nicht passiert, kam der junge Mann – ein „typischer Patient“ – in die neuartige „Präventionsambulanz“ in Ansbach.

Nach einem deutschlandweit einmaligen Konzept helfen dort Ärzte, Psychologen und Sozialarbeiter Menschen mit Persönlichkeitsstörung oder Schizophrenie. Mit einer engmaschigen Betreuung wollen sie verhindern, dass aus psychisch kranken Menschen Straftäter werden, die dann für viele Jahre in einer forensischen Psychiatrie verschwinden. Das diene auch dem Opferschutz, sagt Chefarzt Joachim Nitschke.

Rund 90 Prozent der Patienten sind männlich

Der 47-Jährige leitet die Ambulanz seit dem Start vor fünf Jahren. „Es ist ein Modellprojekt, das es so vorher nicht gab“, sagt er. Und ein einjähriger Vergleich mit einer Gruppe von ähnlichen Patienten, die eine normale psychiatrische Behandlung bekommen haben, habe gezeigt: „Die von uns behandelten Patienten waren wesentlich gesünder und wurden signifikant weniger gefährlich. Bei der Kontrollgruppe ist die Gefährlichkeit gleich geblieben.“

Der Mediziner betont, nur ein kleiner Teil der Psychose-Patienten habe ein erhöhtes Risiko für Gewalttaten: Bei Menschen mit Schizophrenie seien das etwa drei bis fünf Prozent, bei Patienten mit Persönlichkeitsstörung noch viel weniger. Zudem hätten Straftaten psychisch Kranker in den vergangenen Jahren nicht zugenommen, sagt Nitschke. Das bestätigt Heinz Kammeier von der Universität Witten/Herdecke: Die Zahl der Delikte sei seit langem weitgehend konstant. Dafür müssten die Täter meist sehr lange im Maßregelvollzug, der besonderen Art Haft für psychisch kranke oder süchtige Straftäter, bleiben.

Den Mitarbeitern der Vorsorge-Ambulanz geht es nicht nur um eine psychiatrische Behandlung mit Medikamenten und Psychotherapie. „Sondern wir haben auch Sozialarbeiter bei uns, die den Menschen helfen, zurück ins Leben zu kommen“, sagt Nitschke. Die meisten Patienten – 90 Prozent sind männlich – seien zu krank, um etwa einen Antrag auf Hartz IV zu stellen. Die Ambulanz übernimmt zudem die Fahrtkosten der Patienten zur Therapie und erinnert sie per SMS an Medikamente. Außerdem helfen die Betreuer ihnen, einen Job zu finden, der sie nicht ständig überfordert – und sie beraten Angehörige. Denn auch Eltern und Geschwister können im Umgang viel falsch machen.

Straftaten begehen psychisch Kranke meist nicht aus heiterem Himmel. Studien hätten gezeigt, dass sie in der Regel schon mehrfach in der Allgemeinpsychiatrie waren und es Anzeichen gab, dass von ihnen eine Gefahr ausgeht, so Nitschke – sie schlagen um sich, bedrohen andere. Doch dann gebe es für sie kein passendes Angebot. „Eigentlich muss man erst mal einen umbringen, bevor man vernünftig behandelt wird“, klagt der Arzt. Diese Patienten wolle jedoch niemand haben. Bei Hausärzten oder niedergelassenen Psychologen fielen sie „unangenehm“ auf: „Das sind oft Patienten, die durch alle Maschen fallen. Die sind obdachlos, die stinken, die sind laut.“

Die Behandlung ist freiwillig

Die Ambulanz dagegen hilft genau in solchen Fällen – auf freiwilliger Basis, wie Nitschke betont. Niemand werde zu der Behandlung gezwungen. Beim ersten Mal besuchen die Mitarbeiter einen neuen Patienten zu zweit bei ihm zu Hause. Falls derjenige ins Konzept passt, beginnt die Behandlung – bei ihm daheim oder in der Ambulanz. Vier bis sechs Monate betreut Psychologin Zara Sünkel ihre Patienten – bis diese stabil sind, bis sie eine Beziehung aufgebaut hat. „Unser Vorteil ist auch, dass wir sehr spontan Krisentermine ansetzen können, wenn der Patient verstärkt Gewaltfantasien hat.“ Dennoch hat die 30-Jährige – wie alle ihre Kollegen – immer eine Art Notfall-Handy am Gürtel, mit dem sie Hilfe rufen kann. Bei Hausbesuchen ist stets ein Sicherheitsdienst dabei. „Ich hatte aber noch nie den Fall, dass ich im Gespräch Angst hatte“, sagt Sünkel.

Manchmal sind die Patienten der Ambulanz noch gleichzeitig bei einem Psychiater oder einem anderen Psychologen in Behandlung. Der Arzt ist für die Medikamente zuständig, der Psychologe kümmert sich etwa um die Depression der Patienten. Sünkel bespricht mit ihnen das Thema Gewalt – mit unterschiedlichen Techniken. Manchen helfen kleine Karteikarten mit Bildern, um Gefühle zu beschreiben. Bei anderen arbeitet sie mit Spielzeug-Figuren. Der Patient kann dann eine bestimmte Situation nachstellen, in der er wütend wurde.

Laut Nitschke wurden bisher knapp 150 Menschen in der Ambulanz betreut, aktuell sind es 74. Die Finanzierung ist bis Ende 2018 gesichert. 1,8 Millionen Euro zahlen das bayerische Sozialministerium und der Bezirk Mittelfranken. Derzeit dürfen die forensischen Ambulanzen aber nur Straftäter behandeln. Dabei rechne es sich auch finanziell, Risikopatienten schon vorher zu betreuen, sagt Nitschke. „Das hat enormes Einsparpotenzial.“ Eine Unterbringung in einer forensischen Klinik dauere in Bayern im Schnitt vier Jahre – bei einem Tagessatz von 200 Euro.

Michael Osterheider, Professor für Forensische Psychiatrie an der Uni Regensburg, findet auch deshalb den Ansbacher Ansatz „sehr sinnvoll“: „Die Probleme werden viel größer und teurer, wenn man sie nicht behandelt.“

Von Catherine Simon (dpa)