„Manche Menschen sind blau wie der Ozean“

Originalskizze aus der Schule © Eva Gabriel

Originalskizze aus der Schule © Eva Gabriel

Menschen mit Synästhesie nehmen die Welt anders wahr. Einige sehen Zahlen in Farbe, anderen erscheint Musik in Formen. Die Schweizer Illustratorin Eva Gabriel* spricht mit uns darüber, wie ihre Welt aussieht.

Redaktion: Wie ist es, Farben zu hören?

Eva Gabriel: Für mich ist das ganz normal. Ein sattes, dunkles Grün klingt hell und freundlich, ein Zitronengelb eher schrill. Darüber denke ich nicht nach, das ist so.

Spielt denn jeder grüne Baum, jeder orangefarbene Müllwagen eine Art Lied für dich?

Zum Glück nicht. Das würde mich verrückt machen. Um den vollständigen Klang einer Farbe zu erfassen, muss ich mich schon konzentrieren. Ich glaube, so stark unterscheidet sich meine Welt gar nicht von deiner.

Farben habe ich noch nie gehört.

Steht vor mir eine rote Lampe, sehe auch ich eine rote Lampe. Der Ton der Farbe ist mehr wie ein Hintergrundrauschen. Je intensiver das Rot, desto stärker „höre“ ich es.

Was bedeutet Synästhesie?

Synästhesie (altgriech. syn „zusammen“ und aisthesis für „Empfindung“) bezeichnet eine Koppelung oder Verschmelzung unterschiedlicher Sinnesempfindungen. Das heißt, ein Sinnesreiz ruft bei den Betroffenen eine zusätzliche Sinneswahrnehmung in einem anderen Sinnesorgan hervor. Mit am häufigsten ist die Verknüpfung von Gehörtem – etwa von Sprache, Musik oder Geräuschen – mit einer Farbe, einer geometrischen Form oder einem Muster. Wie häufig Synästhesie ist, ist nicht bekannt.

Der Gemüsemarkt wird zur bunten Fläche

Du bist mit Synästhesie geboren. Wann hast du bemerkt, dass deine Wahrnehmung anders funktioniert?

Das lässt sich gar nicht genau sagen. Es war eher ein langer Prozess. In der Grundschule sollten wir uns ein Hörspiel anhören und dazu etwas malen. Die Geschichte spielte auf einem Markt. Es gab einen Fischstand, ein Mann verkaufte Gemüse. Die Menschen wuselten durcheinander. Dann sagte eine Stimme: „Gott gibt es nicht.“

Und wie sah dein Bild aus?

Ich malte runde Farbflächen für die Objekte. Die Stimme war eine eckige, kantige Form in einem kühlen Hellblau, die eindeutig nicht zu den Flächen passte. Sie zerschnitt den Farbfluss regelrecht. Für das Bild habe ich eine Zwei bekommen – in der Schweiz ist das so wie eine Fünf im deutschen Schulsystem. Das war meine erste richtig miese Note.

Hast du mit der Lehrerin über deine Wahrnehmung gesprochen?

Sie glaubte mir nicht. Stattdessen meinte sie, ich hätte die Aufgabe verfehlt und außerdem wohl ein Problem mit Autoritäten. Ich habe es dann dabei belassen.

Hast du in dem Moment verstanden, dass Farben und Geräusche bei dir etwas anderes auslösen?

Nein. Das begriff ich erst während meines Studiums. Da wiederholten sich solche Situationen und meine Professorin fragte mich direkt, ob ich Synästhesie habe. Das war das erste Mal, dass ich davon hörte.

Jede Farbe klingt anders

Eine Erleichterung?

Total. Dass bei mir etwas anders ist, habe ich vermutet, aber ich hatte dafür kein Wort.

Und was hast du dann gemacht?

Nichts. Tatsächlich hat sich in meiner Welt ja nichts verändert. Manche Freunde meinten allerdings, ich sollte dieses „Talent“ nutzen.

Und tust du das?

Nicht gezielt. In meiner Arbeit als Illustratorin kommt mir das intuitive Verständnis für Farben und Formen aber durchaus zugute. Um Harmonien zu erkennen, brauche ich weder Farbkreis noch Formenlehre. Das passiert vollkommen automatisch.

Hat für dich ein Grün eigentlich immer dieselbe „Tonalität“?

Der Klang ist nicht allein abhängig von der Farbe. Wichtig ist auch die Form. Ein rundes Rot klingt anders als ein Eckiges. Ein Helles anders als ein Dunkles. Auch Menschen haben unterschiedliche Farben.

Menschen in Farben sehen

Wie meinst du das?

Sehe ich jemanden, bekommt er eine Farbe. Und auch eine Form. Das ist eine Art erster Eindruck, je nachdem, ob mir jemand sympathisch ist oder nicht.

Ist das so etwas, was manche Menschen als „Aura“ bezeichnen würden?

Nicht wirklich. Da ist kein esoterisches Purpur, das einen besonderen Menschen ständig umgibt. Aber irgendwie nehme ich wahr, ob mein Gegenüber ein dunkelblauer, geschlossener Kreis ist oder ein helles Grün, dass sich bis ins Unendliche ausdehnt.

Ein Beispiel, bitte!

Meine frühere Mitbewohnerin hatte einen Freund. Von dem hat sie mir ewig vorgeschwärmt. Er war Anwalt, selbstbewusst und anscheinend superwitzig. Dann war er zum Essen bei uns.

Und welche Farbe hatte er?

Ein intensives Rot. Es war äußerst flächig und ließ sich wie Gummi auseinanderziehen. Je mehr man zog, desto blasser wurde es. Ließ man die Fläche los, fiel sie schlaff in sich zusammen. Das leuchtende Rot wurde matt und die Fläche bekam sogar Risse.

Das heißt?

Erst mal nicht viel. Außer dass ich Rot nicht mag. Später habe ich allerdings erfahren, dass er trockener Alkoholiker ist. Das hat irgendwie gepasst. So stark und selbstbewusst, wie er sich gab, war er halt nicht.

* Der Name ist von der Redaktion geändert.