„Meine Gutachten sind keine TÜV-Siegel“

„Meine Gutachten sind keine TÜV-Siegel“

Psychiatriezentrum Rheinau im Kanton Zürich © Picture-Alliance/KEYSTONE

Nahlah Saimeh hat sich bereits als Assistenzärztin mit der Behandlung psychisch kranker Straftäter beschäftigt. Heute ist sie Fachärztin und Ärztliche Direktorin des LWL-Zentrums für Forensische Psychiatrie in Lippstadt, einer der größten Einrichtungen dieser Art in Deutschland. Im Gespräch gibt sie Einblick in ihre Arbeit.

Was ist Ihre Aufgabe als forensische Psychiaterin? 

Als Forensische Gutachterin untersuche ich, ob Menschen, die eine Straftat begangen haben, zum Zeitpunkt der Tat wegen einer psychischen Erkrankung nicht voll schuldfähig waren und ob von ihnen weitere Taten zu erwarten sind. Als Forensische Psychiater sind wir aber auch für die Behandlung psychisch kranker Straftäter zuständig.

Nehmen wir ein Beispiel. Was könnte dazu führen, dass ein Stalker, der eine Frau umgebracht hat, nicht schuldfähig ist?

Er könnte zu Beispiel eine sehr schwere narzisstische Störung haben oder psychotisch sein.

Wie stellen Sie den Unterschied fest?

Um herauszufinden, ob der Tatverdächtige ein krankhafter Narzisst ist oder ob er eine Psychose hat, muss ich alle Quellen zusammenbringen, die mir zur Verfügung stehen: Was erzählt mir der vermeintliche Straftäter? Wie war der Tatverlauf? Was weiß ich über seine Motive und wie verläuft die Gerichtsverhandlung? Ob ein Mensch dann im strafrechtlichen Sinne schuldfähig ist, also für seine Tat verantwortlich, entscheide jedoch nicht ich, sondern das Gericht.

Dr. Nahlah Saimeh © Münsterview/Tronquet

Dr. Nahlah Saimeh
© Münsterview/Tronquet

Gut 95 Prozent der Straftäter mit Psychosen werden erfolgreich rehabilitiert

Nach dem Erstellen eines Gutachtens ist Ihre Arbeit also vorbei?

Nein. Wird ein Mensch aufgrund einer psychischen Erkrankung für schuldunfähig erklärt, kommt er in die forensische Psychiatrie, wie beispielsweise zu uns in das LWL-Zentrum für Forensische Psychiatrie Lippstadt. Alle sechs Monate wird dazu ein individueller Behandlungsplan erstellt. Die Behandlung soll die Störung so vermindern, dass der Betreffende zukünftig keine Straftaten mehr begehen wird. Unsere Patienten sollen erst entlassen werden, wenn sie für die Gesellschaft, also für ihre Mitmenschen, nicht mehr gefährlich sind.

Und ob jemand gefährlich ist oder nicht, das entscheiden Sie?

Als forensische Psychiater erstellen wir sogenannte Prognosegutachten über Menschen, die in einer solchen Forensischen Klinik sitzen oder auch in Strafhaft sind. Der bessere Begriff heißt Risiko-Beurteilung. Darin schätze ich anhand bestimmter, abzuprüfender Faktoren ein, wie wahrscheinlich es ist, dass von einem Patient unter bestimmten Umständen erneut eine Gefahr ausgehen wird. Ob er daraufhin tatsächlich entlassen wird, entscheidet abermals das Gericht. Menschen, die in einer Klinik wie der unsrigen behandelt werden, werden dazu auch immer von externen Gutachtern untersucht, damit ein möglichst neutraler Blick von außen den Behandlungsverlauf beurteilt.

Sie versuchen also, in die Zukunft zu schauen. Wie wollen Sie vorhersagen, ob jemand, der unter Einfluss einer Psychose einen anderen Menschen verletzt hat, das nicht noch einmal tut?

Bei Menschen mit Wahnideen oder Schizophrenie ist das relativ einfach, da wir sie in der Regel gut mit Medikamenten behandeln können. Mehr als 95 Prozent von ihnen können tatsächlich erfolgreich rehabilitiert werden. Schwieriger ist es bei Patienten mit Persönlichkeitsstörungen oder sexuellen Abweichungen, etwa einer pädophilen Neigung.

Warum sind solche Störungen schwerer zu therapieren?

Ihre Behandlung ist auch unter normalen Umständen recht langwierig. Außerdem kommen in der Regel nur die schwersten Fälle in die Forensik. Während ihres Aufenthaltes in der Klinik müssen wir ihr Gefährdungspotential daher immer neu beurteilen.

Maßregelvollzug: Was ist das?

Der Maßregelvollzug ist eine Sonderform der klinischen Psychiatrie. Hier werden auf Grundlage des Strafgesetzbuches (§ 63 und 64) erwachsene Straftäter untergebracht, die wegen einer psychischen Erkrankung oder Suchtmittelmissbrauch vom Strafgericht für nicht oder nur eingeschränkt schuldfähig befunden wurden. Die Stationen der Einrichtungen sind häufig in Wohngruppen eingeteilt, in denen die Patienten zusammenleben. In der Regel übernehmen berufsgruppenübergreifende Teams – bestehend aus Psychiatern, Psychologen, Pflegekräften und Ergotherapeuten – die Behandlung. Im Maßregelvollzug können sich die Patienten oft beruflich weiterqualifizieren oder einen Schulabschluss erwerben. Ziel der Unterbringung ist neben der Sicherheit der Bevölkerung die Vorbereitung der Betroffenen auf ein straffreies Leben in der Gesellschaft.

Ein Patient kann immer rückfällig werden

Wie lange bleibt ein Mensch durchschnittlich in der forensischen Psychiatrie?

Ziemlich lang. Psychisch kranke Straftäter verbringen oft mehr als dreimal so viel Zeit im Maßregelvollzug, als sie es in einem Gefängnis tun würden. Im Durchschnitt sind das über sieben Jahre. Bei Patienten mit Schizophrenie oder bei Drogenabhängigen kann der Aufenthalt auch mal kürzer sein. Aber auch hier sprechen wir in der Regel noch von über drei bis vier Jahren.

Nicht selten gibt es Vorbehalte gegenüber der Aussagekraft von prognostischen Gutachten. Wie gehen Sie persönlich mit den Zweifeln um, ob Ihre Einschätzung richtig ist?

Gutachten sind keine „TÜV-Siegel“, dazu sind wir Menschen in unserem Verhalten viel zu komplex. In meinen Prognosen muss ich daher auch immer offen meine Zweifel benennen und die Grenzen meiner Aussagemöglichkeiten darstellen. Das Risiko, dass ein Patient rückfällig werden kann, ist dem Gericht und uns Forensikern dabei immer bewusst. Unser Rechtstaat räumt dem Recht auf Freiheit einen sehr hohen Stellenwert ein. Deswegen sind solche Sprüche wie „wegsperren für immer“ mit den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts überhaupt nicht in Einklang zu bringen. Das ist aber eine rechtspolitische und gesellschaftliche Thematik und nicht eine psychiatrische Frage. Wir Forensiker beschreiben individuelle Rückfallrisiken und die Justiz muss dann entscheiden, in welchen Fällen ein weiterer Freiheitsentzug im Hinblick auf die Sicherheitsansprüche der Gesellschaft gerechtfertigt ist.