Momente der Nähe

© Tobias Gratz

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Die Björn Schulz Stiftung betreibt im Berliner Stadtteil Niederschönhausen eines von 14 Kinder- und Jugendhospizen in Deutschland. Der „Sonnenhof“ ist ein Ort des Abschiednehmens – aber ebenso sehr ein Ort, an dem sich Kraft und Hoffnung finden lassen.

Vor der Zimmertür sitzt ein hellbrauner Teddybär auf einem einfachen kleinen Holzstuhl. Den Kopf mit den glänzend schwarzen Knopfaugen ein wenig zur Seite geneigt, scheint es, als würde er freundlich, aber bestimmt für Ruhe sorgen. „Jeder hier weiß, was das bedeutet“, sagt Jana Arndt: „Eines unserer Kinder ist gestorben.“

Vor sieben Jahren hat die gelernte Krankenschwester im Kinderhospiz Sonnenhof angefangen. Heute ist sie stellvertretende Pflegedienstleiterin. Wichtiger aber noch: Sie ist glücklich mit ihrer Arbeit. „Für viele ist das sicher schwer nachvollziehbar“, betont sie, „aber unser Hospiz ist alles andere als ein trauriges Haus.“

Tatsächlich wirkt die Gründerzeitvilla mit dem gepflegten, weitläufigen Garten samt Pavillon ebenso beschützend wie einladend. Teile des Gebäudes wurden vor drei Jahren saniert, einige der Wände sind bis zum Boden verglast, die anderen in freundlichen, warmen Farben gestrichen. Spielt das Wetter mit, ist das Haus lichtdurchflutet.

Ursprünglich war hier im Berliner Bezirk Pankow ein jüdisches Waisenhaus untergebracht. Im Foyer hängt eine graue Gedenktafel für die unter den Nazis deportierten Kinder. Nach dem Krieg begann für die Immobilie eine Art Odyssee, in deren Verlauf sie von einem Nutzer zum anderen weitergereicht wurde. Erst 2002, mit dem Einzug der Björn Schulz Stiftung, schloss sich der Kreis. Im Sonnenhof dreht sich wieder alles um Kinder.

Diagnose: lebenslimitierende Erkrankung

In Deutschland leben schätzungsweise 20.000 bis 30.000 Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene mit dem, was im Fachjargon „lebenslimitierende Erkrankung“ genannt wird. Etwa 5.000 von ihnen sterben jedes Jahr. Ursache kann nicht therapierbarer Krebs sein, eine schwere und den Organismus immer weiter überfordernde körperliche Behinderung oder eine nicht zu stoppende neurodegenerative Krankheit wie ALS, gegen die sich auch der Astrophysiker Stephen Hawking wehrt.

Dass es hierzulande dennoch nur 14 stationäre Einrichtungen gibt, die auf die Begleitung von unheilbar kranken jungen Menschen und deren Angehörigen spezialisiert sind, hat einen einfachen Grund: Fast alle Eltern wollen auf diesem letzten Weg nah bei ihrem Kind sein; und das möglichst im eigenen Zuhause, im für alle gewohnten Umfeld.

„Betroffene Eltern gehen bis an die Grenzen ihrer Belastbarkeit“, sagt Heike Thümmler, „und oft darüber hinaus.“ Sie weiß, wovon sie spricht: Mit zweieinhalb Jahren erkrankte ihr Sohn Max an Leukämie. Thümmler übernahm die Pflege und gab ihren Job auf. Max überlebte den Krebs.

Kosten und Finanzierung von Kinderhospizen

Kommen Eltern mit der Pflege ihres schwerstkranken Kindes zu Hause nicht mehr zurecht, können sie bei der Kranken- oder Pflegeversicherung einen Antrag auf Entlastungspflege stellen. Bei Zustimmung werden zwar 95 Prozent der Kosten getragen. Allerdings gibt es ein Problem: Von Kasse zu Kasse können die akzeptierten Tagessätze stark abweichen – sie liegen meist pauschal zwischen 250 EUR und 300 EUR. Einige Leistungen wie die Trauerbegleitung, Geschwisterarbeit oder die Unterbringung von Angehörigen fallen ganz aus der Erstattung. Sie sind für eine angemessene Begleitung der Familien aber notwendig. Um ihre Kosten zu decken, sind stationäre Kinderhospize deshalb trotz des Engagements von Ehrenamtlichen massiv auf Spenden angewiesen. Mitunter muss bis zur Hälfte des Gesamtbudgets auf diese Weise finanziert werden.

Das ist jetzt 20 Jahre her. Seitdem engagiert sich Thümmler in der Björn Schulz Stiftung – heute ist sie deren stellvertretende Geschäftsführerin. „Die Begleitung eines sterbenskranken Kindes“, so ihre Erfahrung, „überlagert vor allem emotional alles andere.“

Der Beruf ist Berufung

Kinderhospize bieten deshalb häufig auch Aufenthalte zur Entlastungspflege an. Manchmal nehmen sie die Kinder für wenige Tage auf, etwa weil die Eltern zu einer Hochzeits- oder Geburtstagsfeier eingeladen sind, manchmal aber auch für einige Wochen. Oder für noch länger; vor allem dann, wenn sich der Zustand des Kindes so verschlechtert hat, dass eine angemessene Pflege zu Hause einfach nicht mehr möglich ist. In solchen Fällen wird die Entlastungspflege zur Sterbebegleitung.

Im Sonnenhof können sich die Eltern wieder ganz auf ihr Kind konzentrieren, einfach Vater und Mutter sein. Alles andere wird ihnen abgenommen, und zwar von Spezialisten. Zum Team gehören Kinderkrankenschwestern und -pfleger, Pädagogen und Psychologen, Sozialarbeiter und Seelsorger. Jeder von ihnen hat sich zusätzlich in Schulungen fachlich weitergebildet.

© Tobias Gratz

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Anders als in den meisten Krankenhäusern haben die Mitarbeiter im Hospiz Zeit für die Patienten. Sie können sich auf die Kinder einlassen, ihnen ein Gefühl von Sicherheit geben und gemeinsam mit den Eltern die nächsten Behandlungsschritte klären. Der Beruf ist hier Berufung.

Hinzu kommen einige Dutzend ehrenamtliche Helfer. Sie arbeiten in der Küche, erledigen Einkäufe, helfen bei der Wäsche, frühstücken mit den Kindern, spielen mit den Geschwistern. Andere machen sich in der Verwaltung nützlich, übernehmen Behördengänge, kümmern sich um den Telefondienst oder werben Spenden ein.

Einer von ihnen ist Hans-Jürgen Faschina, ehemals Chefdramaturg beim Fernsehen der DDR. Seit einigen Jahren hilft der Rentner im Empfangsbereich. Seine Frau ist ebenfalls ehrenamtlich für die Stiftung tätig. Die beiden haben drei erwachsene Söhne. „Sie alle sind gesund“, sagt Faschina, „und dafür sind wir dankbar.“

Wenige Regeln, keine Routinen

Bis zu 16 Kinder kann der Sonnenhof aufnehmen. Jedes von ihnen hat ein eigenes Zimmer, in dem meist auch ein Angehöriger übernachten kann. Darüber hinaus gibt es einen speziellen Abschiedsbereich, Elternzimmer, Spielzimmer, einen Kreativraum und einen gemeinsamen Wohn- und Essbereich.

Die Ansprüche der jungen Bewohner sind sehr unterschiedlich. Einige müssen auch mit sechs Jahren noch gewickelt werden. Das bedeutet: waschen, an- und ausziehen, lagern. Sitzt ein Kind im Rollstuhl, wird es vielleicht sogar über eine Sonde ernährt oder künstlich beatmet, ist es auf ständige Betreuung angewiesen.

Ansonsten gibt es im Hospiz wenige Regeln und keine festen Routinen. Das Einzige, was den Tag strukturiert, sind individuelle Therapietermine und die jeweiligen Zeiten der Medikamenteneinnahme. „Hier ist niemand gleich“, meint Jana Arndt, die stellvertretende Pflegedienstleiterin: „Wie sinnvoll ist da ein strikter Tagesablauf?“

Das gilt auch für die Mahlzeiten: Frühstück, Mittag- oder Abendessen – die Küche ist immer offen. „Im Grunde ist es bei uns wie zu Hause“, sagt die 33-Jährige und lächelt auf eine Art, die klarmacht: „Hier gehöre ich hin.“ Nach ihrer Ausbildung zur Kinderkrankenschwester kümmerte Jana Arndt sich in der Berliner Charité um die Frühchen. Sie mochte ihren Job, „aber er hat mich nie so erfüllt wie die Arbeit hier.“

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In einer eigenen Vorstellungswelt

Viele Familien entscheiden sich für den Sonnenhof, wenn die letzte Lebensphase ihres Kindes anbricht. Und nicht nur, weil die Anforderungen an die medizinische oder pflegerische Versorgung nun noch einmal zunehmen. Je deutlicher das Unausweichliche Gestalt annimmt, desto größer wird die Angst, nicht genug für das eigene Kind tun zu können – auch jenseits der Pflege.

Möchten Sie den Sonnenhof unterstützen?

Die Arbeit des Kinderhospizes Sonnenhof der Björn Schulz Stiftung wird zum großen Teil aus Spenden und ehrenamtlicher Arbeit finanziert. Wenn Sie diese Arbeit unterstützen wollen, können Sie dies mit Geld-, Sach- und Zeitspenden tun.

Spendenkonto:
Commerzbank
IBAN: DE78 1004 0010 0100 4001 00
BIC: COBADEFFXXX
Betreff: Sonnenhof

Online-Spende:
www.bjoern-schulz-stiftung.de/online-spende.html

 

Für den Umgang mit dem Sterben gibt es kein Pauschalrezept. Eines aber hilft sicher nicht: das Ende zu verschweigen. „Diese Kinder haben unglaublich feine Antennen“, weiß Heike Thümmler. „Nicht der Tod macht ihnen Angst, sondern das Gefühl, dass da etwas Unaussprechliches im Raum steht.“ Eltern müssen lernen loszulassen. „Das Sterben zu akzeptieren“, sagt Kollegin Arndt, „bedeutet keinesfalls, das eigene Kind aufzugeben.“

Ein Weg, mit der Situation umzugehen, sind Rituale – etwa jeden Abend sehr bewusst die gleiche Gutenachtgeschichte zu erzählen. Rituale geben dem Kind Sicherheit, sie prägen sich aber auch dem Gedächtnis der Eltern ein und helfen ihnen, sich in späteren Phasen der Trauer an diese Momente der Nähe zu erinnern.

Für Kinder ist der Tod meist weit weniger bedrohlich als für Erwachsene. Sie leben in ihrer ganz eigenen Vorstellungswelt. Manche denken darüber nach, welche Kuscheltiere sie auf ihre Reise mitnehmen wollen, andere freuen sich auf das Wiedersehen mit Freunden oder der Familie – nämlich dann, wenn auch sie sterben.

Der Sonnenhof kennt viele solcher, meist sehr berührenden Geschichten. Sie handeln alle eher von der Stärke dieser Kinder denn von ihrer Hilflosigkeit. Als im vergangenen Jahr der achtjährige Jonas* ins Kinderhospiz kam, gaben die Ärzte ihm noch zwei, vielleicht drei Tage. Der Junge lebte weitere zwei Wochen. „Er hat auf seine Schwester gewartet“, erzählt Jana Arndt, „um sich bei ihr zu bedanken und um sich von ihr zu verabschieden.“

Ein besonderer Ort

Für die Eltern beginnt mit dem Tod des Kindes oft der schwerste Abschnitt. Einigen hilft der Glaube, anderen das gemeinsame Trauern mit nahestehenden Menschen.

Auch hier bieten Hospize Hilfe. „Letztlich muss zwar jeder seinen eigenen Weg finden“, sagt Heike Thümmler, „aber es gibt gute Strategien zur Trauerbewältigung.“ Sie weiß, wie tröstlich schon die bloße Anwesenheit eines anderen Menschen sein kann. Jemand, der sich mit ans Bett setzt, die Hand des Trauernden nimmt und ihn in diesem Moment nicht allein lässt.

Das Kinderhospiz bleibt für viele Familien auch nach dem Abschied ein besonderer Ort. Das soll auch so sein. Alle Angehörigen werden regelmäßig eingeladen vorbeizukommen. Sie tauschen sich untereinander aus und erinnern sich gemeinsam mit den Mitarbeitern und ehrenamtlichen Helfern des Sonnenhofs an ihre Kinder.

Der Weg führt dann immer auch in den schönen, weitläufigen Garten des Sonnenhofs. Dort, auch gut von den Zimmern der Gründerzeitvilla aus zu sehen, befindet sich ein Teich. An dessen Rand liegen kleine Steine – für jedes hier verstorbene Kind einer.