Sie brauchte die Magersucht

© Bastei Lübbe

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Gut 13 Jahre lang litt Sonja Vukovic an schwerer Magersucht und Bulimie. In ihrer Autobiografie „Gegessen“ erzählt die Journalistin und Grimme-Preisträgerin, wie sie es schaffte, die Essstörung zu überwinden. Und warum ihr die Krankheit auch geholfen hat.

Zwei Handvoll Chips, ein paar Löffel Eiscreme, zwei Stangen öliges Knoblauchbrot, den Schnittkäse noch mal dick bestrichen mit sahnigem Kräuterkäse und dazu eine Ladung Chicken Wings. Es gab Tage, da stopfte Sonja Vukovic alles in sich rein, was ihr in die Hände fiel. Sie stand vor dem Kühlschrank, essend und betend, dass niemand reinkommt und sie so sieht, vollkommen maßlos. Dann rannte sie ins Bad und steckte sich den Finger in den Hals – nicht nur einmal, sondern bis zu zwölf Mal am Tag. Manchmal spuckte sie sogar Blut.

So rücksichtslos, wie Vukovic ihren Körper über Jahre behandelt hat, so hart geht sie nun mit ihrer Krankheit ins Gericht. Ihre Autobiografie „Gegessen. Wer schön sein will, muss leiden, sagt der Schmerz …“ ist eine ehrliche Auseinandersetzung mit der Essstörung, die zeigt: so selbstzerstörerisch die Krankheit ist, sie hat Vukovic in ihrer Jugend auch gerettet. Ebenso, wie die Recherchen zu diesem Buch. Durch sie, aber auch durch ihre zahlreichen Therapien versteht Vukovic immer besser, was für Mechanismen hinter ihrer Sucht stecken. Auch dieses Wissen hilft ihr, das „eigene Monster“ zu bändigen und öffentlich zu ihrer Krankheit zu stehen.

Zur Autorin

Sonja Vukovic, 31, ist Journalistin. Für das Crossmedia-Projekt „Little Berlin“ wurde sie als eine von 19 Volontären mit dem „Grimme Online Award“ sowie mit dem „Axel-Springer-Preis“ ausgezeichnet. 2013 erschien ihr internationaler Bestseller „Christiane F. – Mein zweites Leben“. Ein Jahr später gründet sie die „F. Foundation“ für Suchtprävention und -aufklärung. Heute lebt Vukovic in Berlin, ist gesund, verheiratet und Mutter einer Tochter.

Vom Leben überfordert

Eine Essstörung ist immer auch ein Symptom: Körper und Gewicht lassen sich leichter kontrollieren als etwa die Streitereien der Eltern. Mit den Gedanken ständig ums Essen zu kreisen, lenkt von anderen Problemen ab. Den Hunger auszuhalten, suggeriert Stärke und Disziplin, wenn das Leben einen eigentlich überfordert, fasst Sonja Vukovic treffend die Ursachen für die Krankheit zusammen.

Genau das war Vukovic in ihrer Kindheit: überfordert. In der Schule wurde sie gemobbt, weil sie zu dick war, ihre Mutter, die sie über alles liebte, war depressiv, ihr Vater alkoholkrank. Mit 13 Jahren wurde sie von ihrem Sportlehrer sexuell missbraucht und in eine emotionale Abhängigkeit getrieben: „Ich liebe dich. Und wenn du mich verlässt, bringe ich mich um.“ Sätze wie diese hörte das Mädchen nicht nur einmal von ihm.

Ab ihrem 13. Lebensjahr wurde die Bulimie zu ihrem „heimlichen Amoklauf“, zu ihrem „emotionalen Ventil“, um irgendwie mit den Traumata fertig zu werden. Es war ihre Art zu sagen: Seht her, mir geht es dreckig! Drei Jahre später kommt die Magersucht dazu. Neben die Ess- und Brechattacken treten also Wochen, in denen Vukovic kaum noch etwas zu sich nimmt und sich antrainiert, den Hunger mit Cola light zu bezwingen. Die Magersucht wird zu ihrem „Lebensordnungssystem“ und zu ihrem „größten Stolz“.

Sich angenommen fühlen

Mit diesen Begriffen will Vukovic die Essstörung nicht verharmlosen. Auf jeder Seite ihres Buchs spürt man, wie sehr sie unter dem Hungern, den Essensexzessen und dem Erbrechen leidet. Detailliert beschreibt sie die Scham, die sie empfindet, als ihr Erbrochenes das Klo verstopft und das Bad flutet.

Die damals 17-Jährige befindet sich in einem Teufelskreis. Auf der einen Seite schottet die Krankheit sie immer mehr von ihren Mitmenschen ab und reduziert ihre Tage aufs Kalorienrechnen. Auf der anderen Seite scheint sie das Einzige zu sein, was ihrem Leben noch Halt gibt. So schmerzhaft es ist, aber die Einsamkeit gibt der jungen Frau Sicherheit. Als Vukovic schließlich – auf 46 Kilos abgemagert – in die Kinder- und Jugendpsychiatrie eingewiesen wird und die Ärzte ihr zur Zwangsernährung einen dünnen Plastikschlauch in der Nase stecken, hat sie nur noch Angst.

Der Einzug in die Wohngemeinschaft für Mädchen mit Bulimie und Magersucht markiert schließlich den Wendepunkt. Hier, zwischen all den anderen Mädchen mit Essstörungen, fühlt Vukovic sich das erste Mal angenommen und verstanden. Die drohende Konsequenz schwerer körperlicher Schäden, die Gefahr, dass ihre Organe langsam versagen und ihr Herz plötzlich aufhören könnte zu schlagen, konnten sie nicht abbringen von der Sucht. Liebe, Geborgenheit und Respekt schon – auch, wenn sie das erst Jahre später versteht.

„Gegessen. Wer schön sein will, muss leiden, sagt der Schmerz …“ ist bei Bastei Lübbe erschienen und kostet 15 Euro.