Jahrelang soll ein Krankenpfleger Patienten ermordet haben. Jetzt steht er wieder vor Gericht – diesmal wegen 100 Taten. Was treibt einen Menschen dazu?
Wahllos schlägt der Mörder zu. Seine Opfer sind wehrlose Menschen im Alter zwischen 34 und 96 Jahren. Sie alle liegen auf der Intensivstation, sind angewiesen auf helfende Hände. Doch ausgerechnet diese bringen ihnen den Tod. Jahrelang soll der frühere Krankenpfleger Niels Högel Patienten umgebracht haben. Wegen der wohl größten Mordserie in der deutschen Nachkriegsgeschichte steht er ab Dienstag (30.10.) vor dem Landgericht Oldenburg. Die wichtigsten Fragen zu dem Prozess:
Worum geht es in dem Verfahren?
Der Pfleger Niels Högel soll von Februar 2000 bis Juni 2005 an den Kliniken Oldenburg und Delmenhorst in Niedersachsen 100 Patienten umgebracht haben. Wegen sechs anderen Taten musste er sich schon vor Gericht verantworten. Seit 2015 sitzt er lebenslang in Haft. Die neuen Vorwürfe hat er weitgehend gestanden.
Welche Strafe droht dem Angeklagten?
Högel ist bereits zur Höchststrafe verurteilt: lebenslange Haft und besondere Schwere der Schuld. Daran wird auch der Prozess nichts ändern. Eine lebenslange Haftstrafe bedeutet in Deutschland aber nicht zwangsläufig, dass jemand bis zu seinem Tod im Gefängnis sitzt. Nach einer bestimmten Zeit prüft eine Strafvollstreckungskammer, ob die Strafe ausgesetzt werden kann – und dabei spielt es nach Ansicht der Nebenklage-Anwältin Gaby Lübben schon eine Rolle, ob jemand 2 oder 100 Morde begangen hat.
Was bedeutet der Prozess für die Familien der Opfer?
Viele von ihren warten auf dieses Verfahren schon seit Jahren. Sie wollen endlich erfahren, was mit ihren Verwandten geschehen ist und warum diese sterben mussten. „Das ist der Sinn des Prozesses: Soweit wie möglich Klarheit zu schaffen“, sagt der Vorsitzende Richter Sebastian Bührmann. Für die Nebenkläger werde der erste Prozesstag eine Achterbahn der Gefühle, sagt Christian Marbach, der Sprecher der Nebenkläger. „Sie wollen, dass es endlich losgeht. Gleichzeitig haben sie auch Angst davor.“
Wo wird verhandelt?
Wegen des großen Andrangs hat das Landgericht den Prozess in die Weser-Ems-Hallen in Oldenburg verlegt. Mehr als 120 Nebenkläger, zahlreiche Zuschauer und Journalisten wollen diesen verfolgen. Für die 23 Verhandlungstage verwandeln sich die Festsäle in einen Gerichtssaal. Unternehmen laden dort normalerweise zu Tagungen, festlichen Banketten oder Bällen. Am Tag vor Prozessbeginn sollten die Umbauarbeiten beginnen. In dem 700 Quadratmeter großen Raum werden dann mehr als 350 Menschen Platz finden.
Was ist Niels Högel für ein Mensch?
Das große Vorbild von Niels Högel, heute 41, war sein Vater, der ebenfalls Krankenpfleger und sehr beliebt war. Genauso wollte der Sohn werden, wie er im letzten Prozess sagte. Er arbeitete viel. Frühere Kollegen beschrieben ihn vor Gericht als hilfsbereit und zupackend. Er war schlank, gut aussehend, feierte gerne. Doch die Arbeit auf der Oldenburger Intensivstation belastete ihn einerseits, andererseits langweilte ihn die Routine. Er litt an Depressionen und Ängsten, nahm Medikamente, trank zu viel Alkohol.
Was waren die Motive?
Nach Ansicht der Staatsanwaltschaft spritzte der Pfleger seinen Opfern Medikamente, die tödliche Komplikationen verursachten. Anschließend versuchte er, diese wiederzubeleben – aus Langeweile und um Anerkennung von seinen Kollegen zu bekommen. Nach einer erfolgreichen Reanimation habe er sich tagelang gut gefühlt, sagte Niels Högel damals vor Gericht. Doch dann sei die Leere wieder da gewesen, und er habe sich ein neues Opfer gesucht.
Wie flog der Pfleger auf?
Gerüchte und später auch konkrete Hinweise, dass der Pfleger Patienten tötete, gab es an beiden Kliniken. Doch erst als eine Kollegin den Pfleger 2005 auf der Delmenhorster Intensivstation auf frischer Tat erwischte, nahmen die Morde ein Ende. Vier frühere Kollegen von Högel am Klinikum Delmenhorst werden sich deshalb wegen Totschlags durch Unterlassen vor Gericht verantworten müssen. Die Ermittlungen gegen fünf ehemalige Klinikmitarbeiter aus Oldenburg laufen noch.
Wieso kommt die Mordserie erst jetzt vor Gericht?
Schon im ersten Prozess gab es Beweise, dass deutlich mehr Morde auf das Konto des Pflegers gehen. Doch erst als Angehörige der Opfer nicht locker ließen und eine andere Oberstaatsanwältin den Fall übernommen hatte, kam es zu einem weiteren Prozess. In dem zeigte sich dann das gesamte Ausmaß der Taten. Der damals zuständige Oberstaatsanwalt wurde später angeklagt, weil er die Ermittlungen verschleppt haben soll. Zum Prozess kam es aber nicht.
Von Irena Güttel (dpa)