Für die Pharmakonzerne sind sie ein Millionengeschäft: kleine Kapseln, die Vitamin D enthalten. Immer wieder ist in Deutschland von Mangel und Unterversorgung die Rede. Scheint ja auch kaum die Sonne hier. Und trotzdem braucht es in der Regel keine Pillen.
Sind Sie häufig müde? Arbeiten Sie in geschlossenen Räumen? Verwenden Sie Sonnencreme? Dann sind Sie womöglich unterversorgt. Das jedenfalls suggeriert ein Selbsttest auf der Internetseite eines Pharmakonzerns. Das Schöne ist: Der vermeintliche Mangel lässt sich ganz leicht beheben – mit dem frei verkäuflichen Präparat, das das Unternehmen anbietet. Es geht um Vitamin D.
Fest steht: Ein echter Vitamin-D-Mangel ist tatsächlich schädlich für die Gesundheit. Davon kann bei den meisten Menschen in Deutschland aber nicht die Rede sein.
Ein flächendeckender Mangel besteht in Deutschland nicht
Vitamin D ist die Vorstufe eines lebensnotwendigen Hormons, erklärt Professor Helmut Schatz aus dem Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie (DGE). Besonders wichtig ist es für gesunde Knochen, es beeinflusst aber auch die Funktion der Muskeln. Im Unterschied zu anderen Vitaminen nimmt der Mensch nur einen kleinen Teil des Vitamin D über die Nahrung auf – zum Beispiel über fetten Seefisch. 80 bis 90 Prozent bildet der Körper in der Haut selbst, mithilfe von Sonnenlicht.
Nun ist Deutschland nicht gerade sonnenverwöhnt. Immer mehr Menschen glauben daher offenbar, dass sie unter einem Vitamin-D-Mangel leiden. Für rund 177 Millionen Euro verkauften allein Apotheken im Jahr 2017 Vitamin-D-Präparate. Das hat das Unternehmen IQVIA ausgerechnet, das den Pharmamarkt beobachtet.
Aber was ist eigentlich ein Mangel? „Davon sprechen wir erst, wenn Menschen Symptome haben, also krank sind“, erklärt Birgit Niemann vom Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR). Weit verbreitete Mangelerscheinungen gab es früher zum Beispiel bei Jod. Seit den 1980er-Jahren wird in Deutschland daher flächendeckend der Konsum von mit Jod angereichertem Salz empfohlen. „Beim Vitamin D ist das nicht der Fall“, betont Niemann. „Wir teilen die Ansicht, dass es in Deutschland einen flächendeckenden Vitamin-D-Mangel gebe, ausdrücklich nicht.“
Das BfR interessiert aber nicht nur, ob es der Bevölkerung an etwas mangelt – das Institut will auch wissen, wie optimal die Menschen versorgt sind. „Und da gibt es bei vielen Vitaminen noch Luft nach oben“, sagt Niemann. Vitamin D gehöre auch dazu.
Dem Robert Koch-Institut zufolge erreicht gut die Hälfte der Erwachsenen in Deutschland die als optimal angesehene Serumkonzentration von 50 Nanomol pro Liter oder 20 Nanogramm pro Milliliter nicht. Haben die nun alle einen Mangel? „Nein“, sagt Niemann. „Es könnte aber sein, dass sie ein Risiko für eine Unterversorgung haben.“
Denn das Risiko der Unterversorgung besteht immer, wenn die Serumkonzentration unter dem Optimalwert liegt. Von einem Mangel sprechen Mediziner aber erst, wenn der Wert noch viel tiefer liegt – zehn nanogram/milliliter für einen moderaten und fünf nanogram/milliliter für einen schweren Mangel. Beides komme relativ selten vor, sagt Schatz.
Ein höheres Risiko haben Säuglinge, die daher flächendeckend Vitamin D bekommen, und auch ein paar andere: Menschen zum Beispiel, die gar nicht oder nur verschleiert das Haus verlassen, Senioren über 65 Jahren und Menschen mit dunkler Hautfarbe. Bei diesen Gruppen kommt eine prophylaktische Gabe von Vitamin D in Betracht, sagt Schatz.
„Wir behandeln keine Blutwerte, sondern Menschen mit Symptomen“
Nun klingt aber auch Unterversorgung nicht wie etwas, das man gern hätte. Doch was bedeutet das eigentlich konkret? „Das ist ein Kern des Problems“, sagt Schatz: „Wir wissen es nicht.“ In zahlreichen Studien haben Wissenschaftler versucht herauszufinden, ob Menschen mit niedrigem Vitamin-D-Spiegel früher sterben, ob sie häufiger an Krebs erkranken oder einen Herzinfarkt erleiden.
Etliche Studien fanden auch einen Zusammenhang zwischen Atemwegs- und rheumatischen Erkrankungen oder Diabetes und einer niedrigen Vitamin-D-Konzentration im Blut. „Was hier aber die Frage ist: Erhöht jetzt der niedrige Vitamin-D-Wert das Risiko für zum Beispiel Rheuma? Oder ist es umgekehrt: Beeinflusst die Erkrankung den Vitamin-D-Spiegel?“
Solange es keine gesicherten Erkenntnisse gibt, sieht die Deutsche Gesellschaft für Endokrinologie abseits der genannten Gruppen bei gesunden Erwachsenen unter 65 Jahren meistens keinen Grund, Vitamin-D-Kapseln zu schlucken. „Für die Pharmakonzerne ist das natürlich ein gutes Geschäft. Aber wir behandeln keine Blutwerte, sondern Menschen mit Symptomen“, sagt Schatz. Die für ihn und die Fachgesellschaft entscheidende Frage: Werden die Menschen tatsächlich seltener krank, wenn sie Vitamin D schlucken?
Neben der DGE kommt auch die Stiftung Warentest zu dem Schluss, dass das bisher nicht eindeutig nachgewiesen ist. Im März 2018 haben die Tester die aktuelle Studienlage unter die Lupe genommen. Sie schreiben: „Die Einnahme von Vitamin-D-Präparaten kann nach derzeitiger Erkenntnis weder Krebs noch Diabetes oder Herz-Kreislauf-Leiden vorbeugen. Gesunden, aktiven Erwachsenen bringen Vitamin-D-Pillen nichts.“
Wer unbedingt wissen will, ob er ausreichend versorgt ist, dem rät die Stiftung Warentest zu einem Bluttest über den Hausarzt. Sieht der für die Überprüfung keinen Anlass, muss der Patient die rund 20 Euro jedoch selbst bezahlen. Die Überprüfung ist nicht Teil eines normalen Check-ups.
Und wer meint, dass er ohne Nahrungsergänzungsmittel nicht über die Runden kommt, könne auf eigene Kosten solche Pillen schlucken, sagt Schatz. Dosierungen von 800 bis 1000 Internationalen Einheiten (I.E.) schaden dem Körper zumindest nicht. Nimmt jemand ohne medizinischen Grund mehr als 4000 I.E. zu sich, kann aber zum Beispiel die Niere leiden.
Besser als Pillen ist Sonne
Und dann ist da ja noch der natürliche Weg, Vitamin D zu tanken: die Sonne. Wer zu einer optimalen Versorgung seines Körpers beitragen möchte, sollte täglich vor die Tür gehen. „Sie müssen dafür nicht den halben Tag in der Sonne liegen“, sagt Niemann. „25 Minuten täglich genügen.“ Dabei sollte rund ein Drittel des Körpers der Sonne ausgesetzt werden.
„Als Faustregel sagen wir: die halbe Zeit bis zum Sonnenbrand“, ergänzt Schatz. Sorge, dass die Haut im Winter zu wenig Vitamin D bildet, müsse man sich nicht machen. „Wer sich im Sommer regelmäßig kurz draußen aufhält, füllt seine Speicher so weit auf, dass er gut durch den Winter kommt.“ Auch im Winter lohnen sich Spaziergänge. Denn selbst wenn der Himmel bedeckt ist, wird in der Haut noch Vitamin D gebildet.
Von Teresa Nauber (dpa)