Zwanghafte sexuelle Störungen sollen als Krankheit anerkannt werden. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) will Ende Mai die neue internationale Klassifikation von Erkrankungen (ICD-11) verabschieden. Für die Psychotherapeutin Heike Melzer ist das ein Meilenstein. „Für die Betroffenen ist es dann einfacher, Therapeuten zu finden.“ Ein Interview.
Marco Krefting (dpa): Was ist eine zwanghafte sexuelle Störung?
Heike Melzer: Wie bei anderen Süchten gehört dazu eine obsessive Beschäftigung mit dem Suchtmittel, in diesem Fall mit sexuellen Fantasien, und/oder die Anbahnung von vorwiegend unverbindlichen oder käuflichen sexuellen Kontakten. Damit einhergehend finden wir über die Zeit eine Toleranzentwicklung und Dosissteigerung.
Was meinen Sie mit „Toleranzentwicklung und Dosissteigerung“?
Was am Anfang gezogen hat, ist irgendwann trist. Ich brauche ein härteres Material, jüngere Darsteller, schneller aufeinander folgende Videosequenzen und dehne meinen Konsum immer mehr aus. Dabei verändern sich die Vorlieben, denn unser Belohnungssystem im Gehirn benötigt für einen Kick immer neues Material. Es steigt die Zahl der Sexkontakte. Ein Patient sagte mal: „Wenn der Schlüpfer fällt, ist es schon wieder hinüber.“ Dann geht die Suche von vorne los.
Zur Person
Heike Melzer (54) ist niedergelassene Fachärztin für Neurologie mit den Schwerpunkten Paar- und Sexualtherapie in München. Als Expertin steht sie regelmäßig Medien Rede und Antwort. Sie ist Autorin des Buchs „Scharfstellung – Die neue sexuelle Revolution“.
Und dann gibt es den Kontrollverlust: Trotz negativer Konsequenzen in der Partnerschaft, dem Beruf, der Gesundheit, finanzieller Engpässe oder Konflikte mit dem Gesetz können Betroffene ihr Verhalten nicht mehr stoppen. Versprechen werden gebrochen und das eigene Verhalten verharmlost.
Die meisten Betroffenen sind männlich
Wie viele Betroffene gibt es?
Es gibt Schätzungen von einer halben Million Sex- und Pornosüchtigen in Deutschland. Hinzu kommt eine ähnlich hohe Zahl indirekt betroffener Partner und Familienangehöriger. Neun von zehn Betroffenen sind männlich.
Wann merke ich, dass ich abrutsche in eine zwanghafte Störung?
Hier gibt es die sogenannte Safe-Regel. S steht für „secret“, alles wird geheim gehalten. A steht für „abusive“, also missbräuchlich. Dies kann der eigene Missbrauch sein, zum Beispiel wenn ich mich vor Pornos immer wieder selbst vergewaltige und den Ausschalter nicht mehr finde. Oder wenn ich Missbrauchsmaterial konsumiere. Und im käuflichen Segment, wenn mein Gegenüber nicht freiwillig am Start ist und unter Druck agiert. F steht für „feeling“. Der typisch Kranke konsumiert, um schlechte Gefühle wegzubekommen. Hier muss man auf Ursachenforschung gehen. E steht für „empty“, also Sex abgetrennt von Emotionen und Beziehungen. Und ganz klar: Wenn ich versuche aufzuhören und merke, dass ich das nicht mehr kann. Erst dann merke ich, wie das Suchtverhalten als Ventil in den Alltag eingewoben ist und wie es mich beeinflusst.
Wann suchen sich Betroffene Hilfe?
Manche Betroffene lesen darüber und stellen fest: Ich kann nicht mehr aufhören – und erkennen ihr eigenes Problemverhalten. Die meisten brauchen aber den eher krassen Weckruf durch Konflikte mit dem Partner, wenn das Doppelleben ans Tageslicht kommt. Andere können sich auf der Arbeit nicht mehr konzentrieren – kein Wunder, wenn ich mich bis zu 40 Stunden in der Woche nebenher meiner Obsession widme. Oder es kommen gesundheitliche Probleme: junge Männer mit Potenzstörungen, partnerschaftliche Lustlosigkeit, verzögerter oder ausbleibender Orgasmus oder sexuell übertragbare Erkrankungen. Und klar, wenn die finanziellen Ressourcen aufgebraucht sind und kein Konsum mehr finanziert werden kann. Zudem gibt es Klienten, da räumt die Polizei den Server und alle elektronischen Geräte ab auf der Suche nach Missbrauchsmaterial.
Die Polizei steht vor der Tür und holt wegen Kinderpornos den Server – das klingt nach Extremfall?
Das ist ein häufiges Thema in meiner Praxis. Diejenigen, denen der Server oder der Laptop abgeräumt wurden, warten bis über ein Jahr auf die Auswertung des Materials, weil die Polizei und die Firmen, die das auswerten, so viel zu tun haben, dass sie gar nicht mehr hinterherkommen. Oftmals handelt es sich hier nicht um pädophile Männer, sondern das Material wird auf der Suche nach Abwechslung im Rahmen von Rollenspielen ausgetauscht, ein typisches Verhalten auch im Rahmen von Dosissteigerung hin zu immer extremerem Material. Klienten sagen dann: Ich wusste schon, dass das nicht in Ordnung war, aber ich habe mich über die Zeit daran gewöhnt.
Der reine Wille reicht oft nicht aus
Wie läuft eine Therapie ab?
Ich baue Betroffene erstmal auf, stärke ihr Selbstbewusstsein, fördere Offenheit und Vertrauen. Dann ist Wissensvermittlung wichtig. Wenn ich weiß, wie mein Belohnungssystem funktioniert und wie ich durch Überkonsum abstumpfe und krank werde, kann ich leichter mein Verhalten ändern. Sucht geht mit Abwehrmechanismen einher, deshalb hilft das achtsame Hinschauen und analysieren, zum Beispiel von Triggern oder von dahinterliegenden Gefühlen. Betroffene sind oft isoliert, der Besuch von Selbsthilfegruppen kann sehr unterstützend sein. Der reine Wille zur Veränderung und klassische Verhaltenstherapie helfen oft nur begrenzt.
Hängt das Problem auch mit gesellschaftlichen Entwicklungen zusammen?
Ja. Die sexuellen Reize werden immer stärker und können im Übermaß konsumiert werden. Was wir uns anschauen, verändert zudem unsere sexuellen Fantasien. Heute ist das, was früher Hardcore war, Blümchensex. Voyeurismus, Fetischismus, Exhibitionismus – das ist mittlerweile Kulturgut. Wer ist nicht Voyeur im Zeitalter von Instagram oder Pornhub?
Von: Marco Krefting (dpa)