Das Leben von Menschen im Rollstuhl ist meist gar nicht so anders als das von anderen, meinen Professorin Jessica Köpcke und Arne Schöning. Köpcke ist Erziehungswissenschaftlerin und hat über das Thema Querschnittlähmung promoviert, Schöning ist Fotograf und sitzt seit einem Unfall selbst im Rollstuhl. Mit „para-normal-lifestyle“ wollen die beiden zeigen, wie das Leben von Menschen mit Querschnittlähmung aussieht.
Redaktion: Was ist „para-normal-lifestyle“ eigentlich?
Jessica Köpcke: In erster Linie ist es der Titel des Buches, das wir Ende nächsten Jahres herausbringen wollen. Dazu gibt es noch eine Website und eine Facebook-Gruppe, in der wir alle, die es interessiert, über die Fortschritte unseres Projektes auf dem Laufenden halten.
Auf der Website heißt es, dass Sie ein Buch aus Expertensicht schreiben möchten. Wer sind denn Ihre Experten?
Arne Schöning: Menschen, die selbst querschnittgelähmt sind. Bei dem Begriff „Experten“ denken die meisten ja an Fachleute, die eine Sache von außen analysieren. Wir wollen hingegen die Betroffenen selbst zu Wort kommen lassen, als Experten in eigener Sache.
Könnte ich hierfür nicht die Autobiografie von Philippe Pozzo di Borgo lesen, auf dessen Leben der Film „Ziemlich beste Freunde“ basiert, oder die von Samuel Koch?
Schöning: Die sind bestimmt sehr interessant. Uns geht es jedoch um die Bandbreite der Erfahrungen. Das Ziel ist es, die Lebenswelten von 20 Personen zu dokumentieren. Zehn Geschichten in Texten, zehn in Bildern. Vom Professor über den Leistungssportler bis hin zum Normalo.
Köpcke: Unsere Co-Autoren erzählen nicht ihre komplette Biografie. Vielmehr geben sie Einblicke in ihr Leben: bestimmte Momente, die sie geprägt haben, Kurioses, Ärgerliches und Positives, dem sie begegnet sind – im Grunde der ganz normale Alltag.
Beruf, Interessen, Lebenseinstellung: All das ist geblieben
Haben Sie ein Beispiel?
Köpcke: Nehmen wir Steven. Er ist Vater von zwei Mädchen, lebt von seiner Frau getrennt und teilt sich mit ihr das Sorgerecht. Wenn die Kinder bei ihm sind, muss er dieselben Dinge erledigen wie andere Elternteile auch: Windeln wechseln, bei den Hausaufgaben helfen, für die Kinder kochen – nur eben im Rollstuhl. Ist er mit den beiden Mädchen auf der Straße unterwegs, starren die Leute ihn oft an.
Schöning: Ein Mann im Rollstuhl, der mit seinen Kindern auf dem Schoß in den Park fährt, ist eben ein ungewöhnlicher Anblick. Als ich Steven kennenlernte, war ich ehrlich gesagt selbst überrascht, wie gut er das Leben mit seinen beiden Töchtern meistert.
Köpcke: Du kennst ja auch nicht viele Menschen mit Querschnittlähmung (lacht).
Schöning: Das stimmt. Obwohl ich derjenige bin, der im Rollstuhl sitzt, ist Jessica durch ihre Arbeit viel besser in der Szene vernetzt als ich.
Woran liegt das?
Schöning: Vor 14 Jahren sprang ich kopfüber in einen zu flachen Pool und verletzte mich an der Wirbelsäule. Seitdem bin ich querschnittgelähmt. Das war natürlich ein harter Schlag. Trotzdem hat sich mein Leben durch den Unfall nicht sonderlich verändert. Beruf, Interessen, Lebenseinstellung: All das ist geblieben.
Köpcke: Ein bisschen was hat sich schon geändert. Früher hast du super viel Handball gespielt. Nach dem Unfall kam das für dich nicht mehr in Frage – nur so bist du überhaupt zur Fotografie gekommen.
Schöning: Das stimmt. Nachdem das Handballspielen nicht mehr so funktionierte, wie ich es kannte, suchte ich mir ein neues Hobby und griff zur Kamera.
Die meisten Menschen mit Querschnittlähmung sind Männer
Warum sieht man eigentlich auf den meisten Bildern, die Menschen beim Rollstuhlsport zeigen, Männer?
Schöning: Gut 80 Prozent der Menschen mit Querschnittlähmung sind nun mal Männer, die in jungen Jahren einen Unfall erlitten haben. Vielen von ihnen hilft Sport, mit der Beeinträchtigung umzugehen, und er gibt ihnen Selbstvertrauen zurück. In unserem Buch wird Sport deshalb auch eine wichtige Rolle spielen.
Köpcke: Und da gibt es ja nicht nur den typischen Basketballer im Rollstuhl, sondern auch Skater, Schwimmer oder Rugby-Spieler. Eine, wie ich finde, sehr schöne Geschichte handelt vom Tauchen. Der Autor beschreibt hier nicht nur, wie schwer es für ihn war, seine gelähmten Körperteile in den Neoprenanzug zu bekommen, sondern auch die Bewegungsfreiheit, die er unter Wasser empfindet.
Worum wird es in dem Buch noch gehen?
Köpcke: Zum Beispiel um Sexualität. Hier erleben Menschen mit Querschnittlähmung tatsächlich unheimlich viele Grenzüberschreitungen.
Was meinen Sie mit „Grenzüberschreitungen“?
Schöning: Zum Beispiel, dass jemand, den ich kaum kenne, auf einer Party zu mir kommt und mich fragt, „ob ich denn noch kann“. Die meisten Menschen denken nach wie vor, Rollstuhlfahrer seien asexuelle Wesen und dementsprechend behandeln sie sie auch.
Inklusion ist kein Nischenthema
Woran merken Sie das?
Schöning: Als Fotograf mache ich auch Aktaufnahmen. Die meisten Frauen haben dabei mir gegenüber kaum Berührungsängste. Da ich kein Mann auf zwei Beinen bin, haben sie das Gefühl, dass von mir keine Gefahr ausgeht. Da es beim Fotoshooting weniger um Erotik als um schöne Bilder geht, ist das für mich als Fotograf im Studio eine tolle Situation, für mich als Mann in bestimmten Situationen nicht so toll (lacht).
Köpcke: In dem Buch geht es jedoch nicht nur um Sexualität. Was ich persönlich interessant finde, sind zum Beispiel die Entwicklungen in der Modeszene. Letztes Jahr wurde auf der Fashion Week in New York die Kollektion eines italienischen Labels von Models im Rollstuhl, mit Gehhilfen und Prothesen präsentiert. Ein Jahr später gab es ähnliche Veranstaltungen auch in Deutschland. Dass das so schnell geht, hätte ich nicht für möglich gehalten. Sogar die „Bild“ hat über Tan Caglar, das erste Rollstuhl-Model auf dem Catwalk, berichtet. Das zeigt mir, dass Inklusion kein Nischenthema mehr ist.
Schöning: Letztendlich ist die Bandbreite an Lebensentwürfen bei Menschen mit Querschnittlähmung genauso groß wie bei allen anderen – und die wollen wir mit unserem Buchprojekt zeigen.
Werden Sie selbst im Buch vorkommen?
Schöning: Jessica ist noch dabei, mich zu überzeugen. Tatsächlich fühle ich mich hinter der Kamera wohler – aber wir werden sehen.