Tanzen auf Rädern

© Tobias Gratz

© Tobias Gratz

Wie viele Leben passen in den Körper eines Mannes, der nicht laufen kann und nur sehr schlecht sprechen? Der schwerbehinderte Performancekünstler Roland Walter hat darauf einige Antworten.

Auf der Bühne des Tanzstudios Dock 11 in Berlin-Prenzlauer Berg bewegt sich eine Gruppe Menschen. Sie gehen vorsichtig aufeinander zu, fassen sich an den Händen, wandeln in Pärchen durch den Raum. Mitten zwischen ihnen sitzt ein Mann im Rollstuhl. Seine Bewegungen wirken unkontrolliert, nahezu abgehackt. Die Knie hat er fest gegeneinander gepresst, seine Finger sind angespannt, sein Blick ist konzentriert. Ein junger Mann hebt ihn aus dem Rollstuhl, legt ihn auf den Boden.

Das Licht geht an und die Probe ist vorbei.

Er ist ein “Brückenbauer”

Roland Walter, der Mann im Rollstuhl, ist seit seiner Geburt spastisch gelähmt. Tritt er mit anderen Künstlern auf, genießt er nicht nur das Rampenlicht. Er genießt auch die körperliche Nähe.

Der Mann mit den kurzen grauen Haaren sagt: „Auf der Bühne fühle ich mich frei.“

Vor gut zwölf Jahren überredete ein Freund den heute 52-Jährigen zu einem Tanzworkshop für Rollstuhlfahrer. „Anfangs fand ich das albern“, erinnert er sich. Doch bereits nach der ersten Probe ist er begeistert, nimmt Einzelstunden, sucht den Kontakt zu anderen Tänzern und tritt gemeinsam mit ihnen auf – manchmal mit Rollstuhl, manchmal ohne.

Auf seiner Website nennt sich Roland Walter einen „Brückenbauer zwischen Behinderten und Nichtbehinderten“. Denn er ist nicht nur gefragter Performancekünstler, sondern gibt auch Seminare zu Themen wie Inklusion und Barrierefreiheit. Seit Anfang 2015 arbeitet er zudem als Inklusionsbotschafter des Behindertenverbands „Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland e.V.“ (ISL).

Die Inklusionsbotschafter

“InklusionsbotschafterInnen – Vernetzung von UnterstützerInnen auf dem Weg zur Inklusion” ist ein Modellprojekt der Aktion Mensch und wird von der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland (ISL) organisiert. Die ISL ist eine von behinderten Menschen selbst getragene Organisation. Bislang wurden 40 Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen als Inklusionsbotschafter ausgewählt. Sie sollen die Inklusion weiter vorantreiben – etwa durch eigene Projekte oder die Entwicklung von Aktionsplänen. Zur Umsetzung ihrer Ideen werden die Inklusionsbotschafter mit 100 Euro im Monat unterstützt. Außerdem gibt es Schulungen zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention. Um Inklusionsbotschafter 2016 zu werden, können Sie sich beim ISL bewerben.

Zu jung, zu schlau, zu behindert

Während seiner Geburt gab es „diesen einen Moment“: Das Gehirn bekam nicht genug Sauerstoff, Hirnzellen starben ab, auch die Verbindung zum Rückenmark wurde geschädigt. Seitdem ist Roland Walter schwer körperlich behindert und muss rund um die Uhr betreut werden. Da auch Sprach- und Schluckmuskulatur vom Spasmus betroffen sind, ist er beim Reden nur schwer zu verstehen. Die vollständige Diagnose der Ärzte lautet: „Spastische Tetraplegie mit Athetosen, gekoppelt mit einer schweren Sprachstörung.“ Aber Schmerzen hat er nicht, sagt er, und Lachfalten kräuseln sich um seine blauen Augen. Es geht ihm gut.

Aufgewachsen ist Roland Walter in Magdeburg. Bis er 37 war, lebte er bei seinen Eltern. „Eigentlich wollte ich viel früher ausziehen“, erzählt er, „doch für das Altenheim war ich zu jung, für Einrichtungen für geistig Behinderte zu intelligent. Und für das betreute Wohnen zu behindert.“

Roland Walter ist schmächtig, trotzdem war die Pflege für seine Eltern immer sehr mühsam. Als beide dann auf die 60 zugingen, war klar: „So kann es nicht weitergehen.“ Er wendete sich ans Fernsehen, der MDR drehte eine Reportage über ihn und machte die Öffentlichkeit auf sein Problem aufmerksam.

Wenige Tage später meldete sich Alfons, ein alter Bekannter, der ebenfalls im Rollstuhl sitzt, und erzählte ihm von einem neuen Betreuungsmodell in Berlin. Mithilfe von Assistenten sollte es Menschen mit Behinderung ermöglicht werden, ein selbständiges Leben zu führen.

Ziemlich beste Angestellte

Roland Walter bewarb sich, wurde angenommen und zog nach Berlin. Gut 15 Jahre ist das nun her. Seitdem lebt er in einer Zweizimmerwohnung in Berlin-Lankwitz. Hier wird er 20 Stunden am Tag, 7 Tage die Woche im Schichtdienst von wechselnden persönlichen Assistenten betreut. Organisiert wird die Betreuung vom Verein Ambulante Dienste e.V., abgerechnet wird über die Krankenkasse.

Seit dem französischen Erfolgsfilm „Ziemlich beste Freunde“ hat fast jeder ein Bild von der Beziehung zwischen einem schwerbehinderten Menschen und seinem „persönlichen Assistenten“. Es ist die Vorstellung von zwei Menschen, die sich gegenseitig in- und auswendig kennen und die das Leben gemeinsam meistern. Von Fremden, die Freunde werden.

Roland Walter sieht das weniger romantisch. „Ein Freund“, meint er, „schaut nicht auf die Uhr, wenn man zusammen ist.“ Manche seiner Assistenten arbeiten bereits seit fünf, andere sogar seit über zehn Jahren für ihn. Trotzdem sind Roland Walter geklärte Rollenverhältnisse wichtig: „Ich bin ein Arbeitgeber“, sagt er mit Nachdruck, „kein Bittsteller.“

Dass sich seine Assistenten zweimal im Jahr ohne ihn treffen und sich über die Arbeit – und damit auch über ihn – austauschen, sieht er nicht so gern. Roland Walter fällt es schwer, anderen Menschen zu vertrauen.

Der König im Rollstuhl

Das weiß auch Olaf Forner. „Unsere Freundschaft“, sagt er, „mussten wir uns über Jahre erarbeiten.“ Die beiden kennen sich ein gutes Jahrzehnt. Was Forner am meisten an Roland Walter schätzt, ist seine Ehrlichkeit: „Wenn ihm etwas nicht gefällt“, berichtet er, „dann sagt er das auch.“

Zum ersten Mal begegneten die beiden einander bei einem Ausflug des christlichen Vereins „Gemeinschaft der Roller und Latscher“, einer Gemeinschaft von Menschen mit und ohne körperliche Behinderung. Olaf Forner redet gerne und viel. Roland Walter fasst sich lieber kurz und denkt über jeden Satz zweimal nach. Doch beide wissen, wie es ist, sich im Leben durchbeißen zu müssen. Seit kurzem arbeitet Olaf Forner auch als Assistent für seinen Freund Roland.

Roland Walter ist gläubig, er hat viele Jahre als Laie gepredigt und organisierte regelmäßig gemeinsame Gemeindeausflüge für Menschen mit und ohne Behinderung. 2014 veröffentlichte er seine Autobiografie „König Roland. Im Rollstuhl durchs Universum“ In dem Buch gibt es ein Gedicht. Dort heißt es: „Die Menschen nennen mich behindert, und sie haben recht, das bin ich auch.“ Und: „Gott sagt, mein Lachen ist schön, und er hat recht, das ist es auch.“

Die Religion gibt Roland Walter Antworten und sie hilft ihm, mit seiner Behinderung umzugehen. „Lieber Gott“, betete er einmal, „dass ich schwerbehindert bin, damit habe ich mich abgefunden. Aber warum muss ich auch noch eine Sprechstörung haben.“ Die Antwort, die er für sich fand: „Gott gebraucht Sprechbehinderte als Gehhilfen für unser Gehör.“ Durch Menschen wie ihn, ist er überzeugt, lernen seine Mitmenschen, wieder richtig hinzuhören.

Nackt und makellos

Performancekünstler, Laienprediger, Inklusionsbotschafter, Autor. Was noch? „Sei realistisch. Versuch das Unmögliche“, steht in großen schwarzen Buchstaben auf der Wand über seinem Schreibtisch. Das letzte Wort ist dick unterstrichen. Roland Walter hat für sich beschlossen, so viel wie möglich aus seinem Leben herauszuholen.

So gesehen überrascht es nicht, dass er jetzt auch noch als Fotomodell zu sehen war, und das online in der italienischen „PhotoVogue“. Anfang 2015 erschienen die Fotos, aufgenommen von der Fotokünstlerin Elena Helfrecht.

Sie zeigt Roland Walter nackt. Auf einem Bild sind nur seine Arme und sein Brustkorb zu sehen. Auf einem anderen liegt er, zusammengekauert wie ein Baby, auf dem Boden.

Sein Körper scheint hell, nahezu makellos.

 

Aktuelle Veranstaltungen und Auftritte von Roland Walter finden Sie auf seiner Homepage.