Auf Wheelmap.org markieren Nutzer rollstuhlgerechte Orte. Mittlerweile ist die Onlinekarte eine der umfangreichsten Datensammlungen zur Barrierefreiheit öffentlicher Orte weltweit. Nun wollen die Macher Raul Krauthausen und Holger Dieterich den nächsten Schritt wagen.
Der Eingang des Cafés Goldmarie in Berlin-Kreuzberg hat Stufen. Menschen, die wie Raul Krauthausen im Rollstuhl sitzen, kommen da nicht rein – jedenfalls nicht ohne Hilfe. Dass das Café weder eine Rampe noch einen zweiten Eingang hat, wurde dem jungen Mann dummerweise erst klar, als er schon dort war.
Sieben Jahre ist das nun her. Eigentlich wollte Krauthausen sich an jenem Tag mit seinem Freund Holger Dieterich zum Kaffee treffen. Rückblickend war es der Tag, an dem die beiden die Wheelmap erfanden, eine spezielle Onlinekarte, auf der Nutzer angeben, ob ein Ort rollstuhlgerecht ist oder nicht.
So funktioniert Wheelmap.org
Wheelmap basiert auf OpenStreetMap – einem Projekt mit dem Ziel, eine digitale Karte der Welt zu schaffen, die jeder frei nutzen darf. Alle Geodaten, die auf Wheelmap.org gesammelt werden, leitet die Software an OpenStreetMap weiter. Die Daten gehören somit nicht einem einzelnen Plattformbetreiber, sondern allen. Selbst wenn es den Verein Sozialhelden also einmal nicht mehr geben sollte, bleiben den Usern die Informationen über rollstuhlgerechte Orte erhalten.
Seit 2010 ist Wheelmap.org online. Mehr als 650.000 Orte sind darauf markiert. „Täglich kommen 200 bis 300 Neueintragungen dazu“, sagt Krauthausen stolz. Noch im Gründungsjahr brachten sie die Wheelmap als App heraus. Kurze Zeit später folgten die ersten Auszeichnungen. Mittlerweile ist die Onlinekarte eine der umfangreichsten Datensammlungen zur Barrierefreiheit öffentlicher Orte in Deutschland. Selbst Verena Bentele, die Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, verweist auf ihrer Website auf das Projekt.
Krauthausen ist das Aushängeschild
„Die App funktioniert ähnlich wie Wikipedia“, erklärt Krauthausen: „Jeder, der will, kann sie herunterladen und mitmachen.“ Einsortiert werden Kino, Schwimmbad und Co. nach einem einfachen Ampelsystem. Grün heißt „voll rollstuhlgerecht“, orange „teilweise rollstuhlgerecht“ und um rot markierte Orte sollten Rollstuhlfahrer lieber einen Bogen machen, denn die sind nicht ohne Stufen erreichbar.
Als es darum ging, die App in verschiedene Sprachen zu übersetzen, fragten Krauthausen und Dieterich einfach die Community: „Wer kann welche Sprache beisteuern?“ Und die Nutzer reagierten: Heute gibt es Wheelmap nicht nur in Englisch und Spanisch, sondern auch in Isländisch und „Klingonisch“ – sowie in 18 weiteren Sprachen.
Krauthausen und Dieterich, beide Mitte bis Ende 30, kennen sich aus dem Studium. Krauthausen ist das Aushängeschild von Wheelmap.org, Dieterich bleibt eher im Hintergrund. Wirklich gefallen tut Krauthausen das zwar nicht – ein „Berufsbehinderter“ wollte er nie sein –, doch über die Jahre hat er sich mit seiner Rolle arrangiert. Er hält Vorträge, gibt Interviews und trat sogar in einem von Google gesponserten Werbevideo auf. Krauthausen gibt der Wheelmap ein Gesicht.
Wer spricht Klingonisch?
Klingonisch ist eine konstruierte Sprache. Der Sprachwissenschaftler Marc Okrand erfand sie 1984 für die Fernsehserie „Star Trek“. Für die Wheelmap ist Klingonisch zwar nicht unbedingt nützlich, aber dafür witzig.
Die Wheelmapper waren nicht die Ersten
Wheelmap macht Barrieren sichtbar. Ein Nutzer schrieb auf der Website: „Ich fahre zwar keinen Rollstuhl, aber bestimmt irgendwann Rollator. Ich mache mit.“ Tatsächlich sind fehlende Aufzüge und Treppen nicht nur für Menschen im Rollstuhl ein Problem, sondern auch für Familien mit Kinderwagen, junge Menschen mit Gipsbein, schwerbepackte Reisende oder eben ältere Menschen mit Rollator.
Die Idee, U-Bahn-Eingänge, Arztpraxen und Schwimmbäder auf ihre Zugänglichkeit hin zu kategorisieren, ist jedoch nicht neu. In Deutschland informieren Hotelanbieter und Reiseveranstalter ihre Kunden schon lange darüber, ob Lobby und Toilette rollstuhlgerecht sind oder nicht. Auch die Bundesregierung und einzelne Kommunen veröffentlichen immer mehr Daten zum Thema Barrierefreiheit und stellen sie online. In Ländern wie Frankreich und den USA gibt es Plattformen, die Wheelmap.org ähnlich sind – etwa die französische Onlinekarte „J’accede“ oder “AXSMap“ in den USA.
Krauthausen und Dieterich sehen in den anderen Anbietern jedoch keine Konkurrenz, sondern eine Bereicherung. Ihr Ziel ist es, sich mit ihnen zu vernetzen. Erste Gespräche mit den Machern von „J’accede“ und „AXSMap“ haben bereits stattgefunden.
Eine Frage der Technik
Die Pflege von IT und Daten ist allerdings schon heute höchst aufwendig. Für Krauthausen ist das ein bisschen wie die Hege eines Gartens. „Damit die Pflanzen wachsen“, sagt er, „müssen wir sie immer wieder gießen und von Unkraut befreien.“ Anfangs machte das ein Freund von Krauthausen und Dieterich. Mit der Zeit war das nebenher allerdings nicht mehr zu schaffen. 2015 haben die Wheelmapper sich deshalb einen professionellen IT-Dienstleister gesucht.
„Für die internationale Vernetzung werden weitere Programmierarbeiten nötig sein“, sagt Dieterich. Dafür brauchen die engagierten Wheelmapper Geld. Das Problem: Hinter der App steht kein Unternehmen. Wheelmap.org gehört zu den Sozialhelden, einem Verein, der sich durch Spenden und Fördergelder finanziert.
Wie finanzieren sich die Sozialhelden?
Die Sozialhelden werden von verschiedenen Unternehmen gesponsert, etwa von der Onlineplattform ImmobilienScout24, die dem Verein kostenlos ein Büro zur Verfügung stellt und sie auch finanziell unterstützt. Auch Fördermittel von Aktion Mensch oder der Europäischen Kommission sichern die Projektarbeit der zehn Mitarbeiter. Weitere Finanzierungsquellen sind der Verkauf von mobilen Rampen – und natürlich Spenden (aus der Community).
Glücklicherweise ist Krauthausen der Vorsitzende des Vereins. Er hat die Sozialhelden vor knapp zwölf Jahren gegründet. Eine ihrer ersten Aktionen war das Sammeln von Pfandbons für einen guten Zweck. Seit dem Start der Wheelmap ist sie das größte Projekt. Von den zehn Mitarbeitern – sechs davon arbeiten in Vollzeit – sind viele fast ausschließlich für die Betreuung der Onlinekarte zuständig.
Wheelmap goes Google
Einen Teil des Geldes, das Krauthausen und Dieterich zur technischen Weiterentwicklung des Tools brauchen, bekommen sie nun von Google. Seit mehreren Jahren fördert der Weltkonzern soziale Projekte. Seit Frühjahr 2015 gibt es die „Google Impact Challenge: Disabilities“ (deutsch: „Google Wettbewerb: Behinderungen“). Dieser Förderwettbewerb richtet sich explizit an gemeinnützige Organisationen, die neue Technologien für Menschen mit Behinderung entwickeln. Mit dabei waren auch die Sozialhelden mit ihrer Wheelmap. Mehr als eine halbe Million Euro erhalten sie für die Weiterentwicklung des Projektes.
Krauthausen und Dieterich hoffen, dass sich bald auch größere Internetunternehmen für Wheelmap.org interessieren. Ihre Vision: Sprachassistent Siri warnt, wenn das Kino keine Rampe hat und Google Maps zeigt, ob die U-Bahn-Station rollstuhlgerecht ist oder nicht. „Dann können auch Menschen von unserem Datenfundus profitieren“, sagt Dieterich, „die die Wheelmap nicht kennen.“