Ein Tragetuch für die Waisenkinder von Bamako

Foto: Bàmunan ye Bamako

Im staatlichen Waisenhaus in Malis Hauptstadt Bamako leben über 260 Kinder – doppelt so viele wie vorgesehen. Durch den militärischen Konflikt im Norden des Landes und ein Gesetz, das internationale Adoptionen verbietet, steigt die Zahl stetig an. Die Betreuerinnen sind überfordert, viele Kinder unterernährt, knapp 30 von ihnen starben im letzten Jahr. Zwei junge Berlinerinnen wollen der Einrichtung nun helfen.

Als Laura Pfälzner das Waisenhaus „Centre d’Accueil et de Placement Familial“ in Bamako, der Hauptstadt des westafrikanischen Landes Mali, im Mai 2017 betrat, war sie schockiert: der Boden voll mit Fliegen, in der Luft der Geruch von Urin, fast jedes zweite Kind stark unterernährt.

Die 27-Jährige kennt die Einrichtung: Seit Jahrzehnten sammeln ihre Eltern für das Waisenhaus Spenden, haben dort sogar zwei Kinder adoptiert. Im Jahr 2007 hatte Pfälzner in „La Pouponnière“, so nennen viele Malier die Einrichtung, selbst ein zweimonatiges Praktikum gemacht. Sie wollte wissen, wo ihre beiden Geschwister herkamen.

„Dass sich die Situation im Waisenhaus in den letzten Jahren zugespitzt hat, wusste ich“, sagt die junge Frau aus Berlin – „das war überhaupt der Anlass für die Reise.“ Die Leitung konnte das Gehalt für zwei zusätzliche, dringend benötigte Betreuerinnen nicht aufbringen. Als ihre Eltern ihr davon erzählten, stand für Pfälzer fest: „Das Geld kriege ich zusammen.“

Gemeinsam mit ihrer Freundin Christiane Hagel startete sie in Berlin eine Crowdfunding-Aktion im Internet. Nach nur zwei Wochen hatten die beiden die fehlenden knapp 1100 Euro zusammen. Von ihrem Ersparten kaufte Pfälzner ein Flugticket nach Mali – sie wollte das Geld nicht nur persönlich übergeben, sie wollte sich die Lage vor Ort auch selbst anschauen.

Rokia wog gerade einmal sechseinhalb Kilo

Die Situation vor Ort erschütterte Pfälzner. „Früher wurde im Waisenhaus trotz aller Widrigkeiten immer auch gelacht“, sagt sie – jetzt blickten die meisten Kinder nur noch apathisch ins Leere.

Eines von ihnen war die zweijährige Rokia. Das Mädchen fiel Pfälzner beim Mittagessen auf. „Während sich alle anderen Kinder um eine große Reisschüssel scharten, blieb Rokia still in der Ecke sitzen, zeigte keine Motivation aufzustehen.“ Pfälzner nahm das Mädchen auf den Arm – und ihr lief ein Schauer über den Rücken: „Sie war einfach viel zu leicht.“

Rokia | Foto: Bàmunan ye Bamako

Rokia kam Anfang Mai 2017 in das Waisenhaus. Laut Krankenakte wog sie damals gerade einmal sechseinhalb Kilo. Nach Berechnungen der Weltgesundheitsorganisation hatte sie damit erhebliches Untergewicht. Bis zum Zeitpunkt von Pfälzners Besuch, gut vier Wochen später, hatte das Mädchen weitere 300 Gramm abgenommen.

Auf Pfälzners Initiative kam Rokia ins Krankenhaus. Die Diagnose: eine entzündete Speiseröhre. Roika hatte Hunger. Durch den leeren Magen, erklärten die Ärzte, produziere Rokias Körper zu viel Magensäure. Die Folge: Der Magen ziehe sich zusammen und drücke die Säure nach oben, wodurch sich die Speiseröhre entzündet. Die Ärzte gaben dem Kind Medikamente und schickten es zurück ins Waisenhaus – für sie war der Fall damit erledigt.

Für Pfälzner nicht. Sie fragte sich: „Wie konnte es geschehen, dass niemand im Waisenhaus Rokias Leid bemerkte?“ Die Antwort liegt nahe: Die Betreuerinnen sind überfordert – und zwar maßlos.

„Viele Eltern können sich ihre Kinder schlichtweg nicht leisten“

Das „Centre d’Accueil et de Placement Familial“ in Bamako ist das einzige staatliche Waisenhaus in ganz Mali. Mittlerweile leben dort zwischen 260 und 300 Kinder – doppelt so viele wie eigentlich vorgesehen. Schlafplätze gibt es gerade einmal für die Hälfte.

Konzipiert wurde das Waisenhaus für Kinder zwischen null und drei Jahren. Da es in der Region keine Anschlusseinrichtung gibt, nimmt die Leitung nun offiziell Kinder bis zum Alter von fünf Jahren auf. Tatsächlich sind viele der Kinder bereits über zehn Jahre alt, darunter viele mit einer körperlichen oder geistigen Behinderung. Denn auch Einrichtungen für Menschen mit Behinderung sind in Mali rar.

Foto: Bàmunan ye Bamako

Die Konsequenz: Für mehr als Fläschchengeben, Essenkochen und Windelnwechseln haben die Betreuerinnen keine Zeit. Und selbst dafür reicht die Zeit oft nicht aus. „Im letzten Jahr sind 30 Kinder gestorben“, berichtet Sorgé Fatoumata. Sie ist 46 und arbeitet seit gut 25 Jahren in dem Waisenhaus. „Die meisten von ihnen starben an Unterernährung, einige wegen fehlender Medikamente.“ Selbst das Geld für Windeln und Milchpulver sei knapp.

Als junge Frau verdiente Fatoumata ihr Geld als „Bringerin“. Das heißt, sie ging für andere Menschen auf dem Markt einkaufen. Als 20-Jährige begann sie, in „La Pouponnière“ zu arbeiten und wusste sofort: „Hier bin ich richtig.“

Die meiste Zeit verbringt Fatoumata auf der Krankenstation, füttert die unterernährten Kinder mit spezieller reichhaltiger Milch. Wenn es nötig ist, bringt sie die Kinder auch ins Krankenhaus. In der Regel fährt sie dann der Pförtner. „In letzter Zeit war das Auto jedoch oft kaputt“, sagt Fatoumata. Dann nahm sie das kranke Kind auf den Arm und ging zu Fuß – vom Waisenhaus bis zum Krankenhaus sind es gut sechs Kilometer.

Bis heute liebt die Malierin ihre Arbeit. Seitdem die Anzahl der Kinder dramatisch gestiegen ist und das Geld immer knapper wird, ist sie jedoch oft frustriert.

Durch ein neues Gesetz herrscht im Waisenhaus nahezu ein „Adoptionsstopp“

Dass sich die Lage im Waisenhaus seit Pfälzners letztem Besuch im Jahr 2007 derart verschlechtert hat, hat unterschiedliche Gründe. Da ist einmal die politische Situation: Im März 2012 gab es in Mali einen Militärputsch. Seitdem sind im Land Hunderttausende Menschen auf der Flucht. Mittlerweile hat sich die Lage zwar stabilisiert, doch im Norden des Landes ist die Sicherheitslage nach Angaben des Auswärtigen Amtes nach wie vor prekär. Das Land wird zudem immer noch größtenteils von islamistischen Milizen und Rebellen kontrolliert.

Dazu kommt: Mali ist arm, eines der ärmsten Länder weltweit. Die militärischen Auseinandersetzungen haben das Land zusätzlich belastet. Laut Auswärtigen Amt lebt mehr als jeder zweite Mensch in Mali unterhalb der Armutsgrenze. „Viele Eltern“, weiß Fatoumata, „können sich ihre Kinder schlichtweg nicht leisten.“

Foto: Bàmunan ye Bamako

Der härteste Schlag für das Waisenhaus war jedoch ein neues Adoptionsgesetz. Im Oktober 2012 beschloss das Parlament auf Initiative des Hohen Islamischen Rats, dass zukünftig nur noch malische Staatsbürger Kinder adoptieren können – internationale Adoptionen sind verboten. Warum das Gesetz erlassen wurde, ist unklar. In der Bevölkerung wird jedoch gemunkelt, dass die Regierung durch den Erlass verhindern wollte, dass malische Kinder von Menschen adoptiert werden, die nicht muslimisch sind.

„Früher wurden die Kinder vor allem von Paaren aus Frankreich adoptiert“, berichtet Betreuerin Fatoumata. Seitdem das Gesetz erlassen wurde, herrsche im Waisenhaus nahezu ein „Adoptionsstopp“ und die Zahl der Kinder steige von Monat zu Monat an. Von der Regierung sei kein Geld zu erwarten – die wenigen verfügbaren Mittel fließen in die Ausstattung des Militärs. Die Gelder für das Waisenhaus wurden seit Jahren nicht erhöht.

NGOs sollen dem Waisenhaus helfen

Was Fatoumata am meisten schmerzt: „Erst wurden die Kinder von ihren Eltern verlassen und nun haben selbst wir weder Zeit noch Ressourcen, uns angemessen um sie zu kümmern.“ Dabei sollten auch die Waisenkinder eine Chance haben, glücklich zu sein.

Das findet auch Pfälzner. Zurück in Berlin hat sie ihre private Initiative daher ausgebaut – aus der Crowdfunding-Aktion wurde das Projekt „Bàmunan ye Bamako (Bambara für: Ein Tragetuch für Bamako) – Hilfe für die Kinder im Waisenhaus von Bamako“ . Zusammen mit ihrer Freundin Christiane Hagel will Pfälzner weitere Spenden sammeln und über die Lage der Waisenkinder in Bamako aufklären. Außerdem sind die beiden auf der Suche nach internationalen Hilfsorganisationen und NGOs, die das Projekt und die Einrichtung fördern könnten und sich den Kindern annehmen, wenn sie älter sind.

Ihr erstes Ziel haben sie bereits erreicht: Mit den 1100 Euro, die sie gesammelt haben, können die Betreuerinnen Fatumata Traoré und Hawa Ongoiba bis Ende des Jahres bezahlt werden. Und nicht nur das: Rokia geht es mittlerweile besser. Durch die Medikamente geht die Entzündung zurück und das Mädchen beginnt langsam wieder zu essen und nimmt zu.