„Traurig, aber keine Einzelfälle“

© Sibylle Baier

© Sibylle Baier

Flüchtlingskinder mit einer Behinderung werden in Deutschland oft unzureichend versorgt. „Die Spätfolgen sind teilweise gravierend“, weiß Benita Eisenhardt von MenschenKind, einer Fachstelle für die Versorgung chronisch kranker und pflegebedürftiger Kinder. Sie sieht durch das Verhalten der Behörden sogar die Grundrechte infrage gestellt.

Von wie vielen Fällen sprechen wir eigentlich?

Wir haben aufgehört zu zählen. Zwischen 2013 und 2014 hatten wir allein in Berlin rund 100 Flüchtlingskinder mit einer Behinderung, die nicht ausreichend versorgt wurden – über die Dunkelziffer kann man nur spekulieren.

Gibt es keine offiziellen Zahlen?

Nein. Diese Kinder zählt niemand. Entsprechend weiß auch niemand, wie hoch der tatsächliche Versorgungsbedarf ist. Klar ist nur: Die Ansprüche vieler dieser Kinder gehen nicht nur im übertragenen Sinne unter.

An wem liegt das denn?

Das fängt damit an, dass die Eltern oft nicht wissen, dass ihr Kind – wenn es sich beispielsweise im Alter von vier, fünf Jahren immer noch nicht alleine aufrichten kann – einen Anspruch auf Physiotherapie hat. Auch in den Aufnahmeeinrichtungen werden selbst schwere Behinderungen oft übersehen.

MenschenKind

MenschenKind setzt sich für Familien mit schwerkranken und betreuungsintensiven Kindern ein. Die Fachstelle entwickelt, initiiert und unterstützt Netzwerke für die Versorgung chronisch kranker und pflegebedürftiger Kinder und deren Familien. Träger ist der Humanistische Verband Deutschland Landesverband Berlin-Brandenburg e.V.

Behinderungen werden oft versteckt – auch auf der Flucht

Das kann doch nicht sein.

Doch. Wir erleben alles: von schweren Lernbehinderungen über Kinder mit Down-Syndrom, Herzfehlern und Taub- oder Blindheit. Manche Eltern verbergen die Behinderung ihres Kindes ganz bewusst.

Wieso das?

Aus Angst. Sie fürchten, die Behinderung ihres Kindes könnte ein Grund sein sie abzuschieben. In einigen Ländern werden Menschen mit körperlicher oder geistiger Behinderung nach wie vor ausgegrenzt. Da haben viele gelernt, die Behinderung ihres Kindes zu verschweigen.

Benita Eisenhardt

Benita Eisenhardt

Spätestens auf der Flucht geht das doch gar nicht mehr.

Dort ganz besonders. Jedenfalls auf den Booten – wird dort Essen und Trinken knapp, geraten Kinder mit einer Behinderung in akuter Gefahr, von den anderen über Bord geworfen zu werden.

Wie schaffen Eltern es überhaupt mit einem schwer behinderten Kind bis nach Europa?

Indem sie es tragen. Bei Schleppern kann man keinen Platz für einen Buggy buchen. Aber selbst wenn sich die Eltern ein Zug- oder Flugticket leisten können, bleibt die Reise ein Kraftakt. Die Bilder von erschöpften und verzweifelten Familien, die zurzeit Ungarn erreichen, kennen wir doch mittlerweile alle.

Wie geht es für die Menschen weiter, wenn sie in Deutschland angekommen sind?

Erst mal warten sie auf ihre Registrierung. Dann werden sie auf die Bundesländer verteilt und die zuständige Landesbehörde weist ihnen eine Erstaufnahmeeinrichtung zu. In Berlin campieren derzeit Hunderte vor dem Landesamt für Gesundheit und Soziales (LAGeSo) und warten darauf, dass man ihnen einen Schlafplatz zuteilt.

Behandelt werden nur die Notfälle

Der medizinische Bedarf wird nicht ermittelt?

Nein. In der Regel werden nur die Notfälle behandelt. Eine Behinderung oder eine chronische Erkrankung gelten jedoch selten als akuter Notfall.

Gesundheitliche Versorgung von Flüchtlingen

In Deutschland wird die gesundheitliche Versorgung von Flüchtlingen durch das Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) geregelt. Nach Paragraf 4 AsylbLG übernimmt das Sozialamt die Behandlungskosten im akuten Krankheitsfall und bei Schmerzzuständen. „Sonstige Leistungen“, beispielsweise ein Rollstuhl, werden laut Paragraf 6 gewährt, wenn sie zur „Sicherung der Gesundheit unerlässlich“ oder „zur Deckung besonderer Bedürfnisse von Kindern“ notwendig sind. Wann dies der Fall ist, liegt im Ermessensspielraum der zuständigen Behörden. Ebenso wie Schwangere, ältere Menschen, Opfer von Menschenhandel unterliegen auch Frauen, Männer und Kinder mit einer Behinderung dem Status einer „besonders schutzbedürftigen Person“.

An wen können sich die Eltern mit ihrem behinderten Kind wenden?

An einen Arzt, Sozialarbeiter oder an ein sozialpädiatrisches Zentrum. Dort wird gegebenenfalls ein Gutachten erstellt und die Familie muss dann die nötigen Anträge stellen. Bis ein Rollstuhl oder eine Physiotherapie bewilligt sind, dauert es oft mehrere Monate.

Und in der Zwischenzeit?

Da muss improvisiert werden. Das ist schon schlimm. Problematischer sind aber die manchmal irreparablen Folgen dieser Verzögerung.

Was heißt das konkret?

Nehmen wir Ali*. Der Junge stammt aus dem Libanon und kam mit zwei Jahren nach Deutschland. Er leidet unter kognitiven Einschränkungen und an Epilepsie. Als er in die Kita kam, konnte er sich ohne Hilfe nicht einmal alleine aufrichten. Zwei Jahre lang haben wir auf seine Stehhilfe und seine Fußorthesen gewartet. Und dann kamen die falschen. Heute ist Alis Hüfte kaum ausgebildet und er hat durch die Spasmen eine starke Fehlstellung der Gelenke entwickelt.

Das kann doch nicht die Normalität sein.

Vielleicht ist das ein besonders tragischer, aber gewiss kein Einzelfall. Hishams* Arme und Beine sind gelähmt und er leidet an epileptischen Anfällen. Bis er 13 war, wurde der Junge im Kinderwagen geschoben. Anfang 2013 beantragten wir beim Sozialamt einen Pflegebuggy.

Mit welchem Ergebnis?

Als die Bewilligung endlich da war, passten die Maße nicht mehr. Der Folgeantrag auf einen Rollstuhl mit spezieller Sitzschale wurde nach fünf Monaten abgelehnt. Wir widersprachen und nach weiteren fünf Monaten kam schließlich doch die Bewilligung.

Das scheint ein absurd hoher Aufwand zu sein.

Absolut! Ich will gar nicht wissen, wie viele Arbeitsstunden da zusammenkommen. Das ist eine unglaubliche Verschwendung von Ressourcen. An solchen Anträgen sitzen nicht nur Mediziner und Sozialarbeiter, sondern auch Physiotherapeuten, Logopäden, Sanitätsfachangestellte und Pädagogen.

Ist das ein spezielles Problem bei Flüchtlingskindern?

Natürlich werden auch bei deutschen Kindern Anträge abgelehnt. Im Falle von Asylbewerbern sind die Verfahren jedoch noch komplexer. Mit den entsprechenden rechtlichen Regelungen kennen sich meist weder Antragsteller noch Sozialarbeiter oder Ärzte wirklich aus. Eine falsche Formulierung und der Antrag wird abgelehnt.

 

Der Ermessensspielraum der Behörde

Geht es nur darum, wer die Kosten trägt?

Nein. Die Behörden sind schlicht und einfach überfordert. Nach den Aufnahmeregeln der Europäischen Union gelten Flüchtlingskinder als „besonders schutzbedürftige Personen“. Und das ganz besonders, wenn sie eine Behinderung haben. Wir müssen ihnen also alle erforderlichen medizinischen Hilfen zur Verfügung stellen, die sie brauchen – ganz egal, ob sie aus Syrien kommen oder vom Balkan.

Was bedeutet das in der Realität?

Das liegt unseligerweise im Ermessensspielraum der Behörden. Vielen, die dort über die Anträge für Hilfsmittel oder Physiotherapien entscheiden, fehlt allerdings das nötige Fachwissen. Das kann man ihnen persönlich oft gar nicht übelnehmen. Aber für die Kinder kann das dramatische Folgen haben. Die wachsende Zahl an Flüchtlingen, die noch kommen werden, macht die Situation nicht besser.

Was schlagen Sie vor?

Wir brauchen eine zentrale Anlaufstelle für die medizinische Erstversorgung, so wie in Bremen. In den dortigen Erstaufnahmeeinrichtungen kann sich jeder, der möchte von einem Arzt untersuchen lassen. Besteht ein Bedarf, leiten sie ihn ins Gesundheitssystem weiter.

Was können wir heute schon tun?

Zuerst mal aufhören, von „Fällen“ zu sprechen. Das sind Kinder wie unsere eigenen auch. Mit dem Unterschied, dass sie bis hierhin meist einen sehr viel schlechteren Start ins Leben hatten.

* Die Namen der beiden Jungen sind von der Redaktion geändert.

 

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