Mode und Behinderung: Inklusion oder Marketing-Hype?

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Auf dem Laufsteg sind Models mit Behinderung schon lange keine Seltenheit mehr. Doch worum geht es den Designern wirklich: um Fashion, um Inklusion oder doch in erster Linie darum, Aufmerksamkeit zu erregen? Bloggerin Ninia LaGrande ordnet die Entwicklungen ein.

„Ich habe den ganzen Schrank voll mit wunderschönen Opernkleidern. Die ziehe ich sehr gerne an. Weil ich weiß, ich sehe da drin einfach umwerfend toll aus. Ich bin mehr der Typ, der speziell auf Farbe achtet. Ich kombiniere immer gern. Das heißt: Ich spiele mit den Farben. Und das Make-up muss immer dazu passen. Da bin ich sehr speziell.“

Das sagt Andrea Halder, Mitarbeiterin in der Redaktion Ohrenkuss, einem Magazin von und für Menschen mit Down-Syndrom. Ihre größte modische Herausforderung? Fast jedes Kleidungsstück, das sie kauft, ist zu lang: „Meine Jeans muss ich immer erst zur Änderungsschneiderei bringen, bevor ich sie anziehen kann.“ Außerdem wünsche sie sich eine größere Auswahl an Schuhen für Menschen mit kleinen Füßen (was die Autorin dieses Artikels nur nachdrücklich unterstützen kann).

Ihre Kollegin Natalie Dedreux trägt ebenfalls gerne Kleider. Und: „Ich mag es, wenn alles glitzert. Ich liebe Glitzer-Kleidung!“ Sie wünscht sich mehr T-Shirts mit Ausschnitt und gelben Smileys. Und sie ist überzeugt: „Mode ist ein starkes und gutes Thema. Mode sieht hübsch aus!“

Madeline Stuart | Foto: Jason Szenes/dpa

Madeline Stuart ist stolz auf ihr 21. Chromosom

Dass Mode selbstverständlich auch an Menschen mit Down-Syndrom hübsch aussieht, entdeckt die Modebranche nur sehr langsam. Herausragendes Beispiel: Madeline Stuart. Die Australierin ist seit zwei Jahren ein gefragtes Model und inzwischen auch Geschäftsfrau – sie hat ihre erste eigene Kollektion entworfen. 21 Reasons Why soll eine inklusive Kollektion für alle trendigen Frauen sein, abseits von Körpergrößen und –normen. Der Name der Kollektion ist Programm. Stuart sei stolz auf ihr 21. Chromosom. Sie gilt inzwischen als Role Model.

Ebenfalls bekannt vom Laufsteg und vor allem aus dem TV: die US-Amerikanerin Jamie Brewer. Auch sie hat das Down-Syndrom und glaubt, dass sie für andere Frauen ein Vorbild sein kann. Nach dem Motto: Wenn die das schafft, kann ich das auch.

Vorreiterinnen wie Stuart und Brewer sind wichtig. Noch immer glauben viele Menschen, eine Behinderung sei ein Fehler oder mache ein Leben gar nicht lebenswert. Stuart und Brewer zeigen wie selbstverständlich: Ich bin erfolgreich – als Frau mit Down-Syndrom. Mein Leben ist schön.

Doch ist es genau das, was sich Designer Hendrik Vermeulen dachte, als er Madeline Stuart als Erster bei einer seiner Shows auf den Laufsteg schickte? Oder handelte er vielmehr auch aus Gründen der Aufmerksamkeit? Madeline als Marketing-Clou? Das sind Fragen, die sich viele Designer und Designerinnen gefallen lassen müssen, die Menschen mit Behinderungen auf den Laufsteg schicken.

Vor wenigen Jahren hatten Modeshows, in denen Menschen mit Behinderungen eingebunden wurden, noch viel vom Kuriositäten-Kabinett des 19. Jahrhunderts. Wie die von Designer Patrick Mohr 2013 auf der Fashion Week in Berlin. Mohr ließ seine Entwürfe von Bodybuildern, Türstehern, People of Color und Menschen mit Behinderung präsentieren. Sie standen auf kleinen Podesten – wie Ausstellungsstücke und durften sich nicht bewegen. Die Modenschau war durch ihre Auswahl der Models das Gegenteil von Inklusion. Eine Provokation, die ihr Ziel erreichte, aber nichts von einem inklusiven Gedanken hatte. Anastasia Umrik, selbst Designerin für ihr langjähriges Label inkluWAS, beschrieb die Präsentation damals als Freakshow und fühlte sich selbst als Rollstuhlfahrerin alles andere als angesprochen oder repräsentiert.

„Das Publikum ist übersättigt von den immer gleichen Bildern“

Inzwischen laufen Models wie Mario Galla, der eine Beinprothese nutzt, oder RJ Mitte, der eine leichte Form der infantilen Zerebralparese hat und auch als Schauspieler aus „Breaking Bad“ bekannt ist, auf vielen Laufstegen mit. Gemeinsam mit anderen Models, die keine Behinderung haben.

Wird die Modebranche jetzt tatsächlich inklusiver oder versuchen sich die Designerinnen und Designer mit dem Engagement von Models mit Behinderungen nur von anderen abzuheben?

Die Grazer Soziologin Waltraud Posch erklärt dazu in einem Interview: „Das Publikum ist übersättigt von den immer gleichen Bildern. Außerdem werden sich immer mehr Modedesigner langsam bewusst, dass der Durchschnittsmensch eben nicht so aussieht, wie es die Werbung propagiert.“ Es gäbe inzwischen eine Sehnsucht nach Vielfalt. Man kann es aber positiv als das Bemühen nach Abbildung der Realität bezeichnen. Denn die Realität ist nun einmal vielfältig. Trotzdem: Auch Mario Galla und RJ Mitte entsprechen den gängigen Schönheitsnormen für Männer – sie sind groß, schlank, weiß und sportlich.

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Jillian Mercado ist ein Beispiel dafür, wie das mit der Inklusion wirklich funktionieren kann. Mercado ist ein amerikanisches Model – sie ist bei IMG Models unter Vertrag, eine der großen Modelagenturen. Und sie benutzt einen Rollstuhl. Ihr wohl größter Auftrag bisher: Beyoncé hat sie als Model für ihren Onlineshop engagiert. Als eine von vielen Models, keine wird besonders herausgehoben. Und der Rollstuhl steht nicht im Vordergrund.

Bei vielen anderen Kampagnen entsteht leider immer noch zu oft der Eindruck, dass die Behinderung des Models mehr im Vordergrund steht als das Produkt oder die Kleidung. Aufmerksamkeit um jeden Preis – die Behinderung als Verkaufsfaktor. Und in der Regel ist die präsentierte Kleidung dann nicht einmal wirklich an die jeweilige Behinderung angepasst oder wirklich tragbar. Denn: Auch Menschen mit Behinderungen sind viel zu individuell, als dass die Stücke von allen getragen werden könnten. Ein kleinwüchsiger Mensch hat andere Bedürfnisse als ein autistischer Mensch oder jemand ohne Arme.

Auch Geschäfte müssen barrierefrei sein

Autorin Marlies Hübner, die in ihrem Roman „Verstörungstheorien“ über das Leben mit Autismus schreibt, nennt ein Beispiel: „Die vielen Labels, die in die Kleidungsstücke genäht werden, sind für Autisten die Hölle. Sie kratzen so sehr, dass man die Kleidungsstücke nicht tragen kann. Schneidet man sie raus, kratzt die Schnittstelle. Trennt man sie raus, lösen sich die ganzen Nähte.“ Auf ihrem Blog schreibt sie auch über „Mode als autistische Herausforderung“. Sie wünsche sich vor allem weniger schnell wechselnde Kollektionen, da sie als Autistin Lieblingsstücke gerne trage und nachkaufe.

Ebenfalls wichtig: das Einkaufserlebnis. Die schönste Mode nützt nichts, wenn es an Barrierefreiheit fehlt. Die Erfahrung hat auch Twitternutzerin @teemitzimt gemacht: „Ich würde mich über mehr Platz in Umkleidekabinen oder Sitzmöglichkeiten freuen. Sensibleres Personal wäre manchmal auch nicht schlecht.“

Es reicht also natürlich nicht, Menschen mit Behinderung nur in der Werbekampagne mitzudenken – und selbst das passiert noch viel zu selten. Die Modebranche muss sie von Beginn des Designprozesses bis zum Verkauf im Laden oder online einbinden. Eine Aufgabe, an der sich kleine Labels und Kollektionen wie inkluWAS, Auf Augenhöhe, Rollimoden und hemdless  schon erfolgreich versucht haben. inkluWAS ist das Label von Anastasia Umrik – die sich schon im Artikel zur Modenschau von Patrick Mohr mehr Mut in der Modebranche wünschte. Ihre Kleidung setzt ein Statement, kann von allen Menschen getragen werden und propagiert mit designstarken Motiven die Vielfalt der Menschen. Inzwischen ist das Projekt beendet.

Natalie Dedreux | Foto: Rolf Vennenbernd/dpa

„Auf Augenhöhe“ nennt Sema Gedik ihre Kollektionen mit kleinwüchsigen Menschen. Sie präsentiert ihre neuen Kollektionen inzwischen sogar jährlich bei der Berlin Fashion Week. Tragbare, moderne Designs für Menschen unter 1,50 m. Die Resonanz ist groß. Rollimoden erklärt sich durch den Namen, hemdless macht Hemden für Menschen mit Trisomie 21. Zumindest die drei letztgenannten eint: Sie entwerfen Mode für eine spezielle Zielgruppe mit Bedürfnissen, die über die Norm hinausgehen. Ein Schritt weiter wäre, Kollektionen für alle Menschen mitzudenken – davon ist die Modebranche auch heute noch sehr weit entfernt.

 

Die Autorin

Ninia Binias ist Moderatorin, Autorin und Poetry Slammerin. Seit 2015 moderiert die 34-Jährige auch ihre eigenen Fernsehformate und ist regelmäßiger Gast bei Kabarett- und Comedysendungen. Ihr Erzählband „… und ganz, ganz viele Doofe!“ ist 2014 im Blaulicht-Verlag erschienen. Seit 2008 bloggt Ninia Binias unter ninialagrande.de. Außerdem ist sie Autorin bei Leidmedien.de.

Der Artikel „Mode und Behinderung: Inklusion oder Marketing-Hype?“ ist zuvor bei Leidmedien.de erschienen. Leidmedien.de ist ein Projekt der Sozialhelden, das sich dafür einsetzt, Berührungsängste gegenüber Menschen mit Behinderungen abzubauen. Der Ansatz der Medienschaffenden: gezielte Medienkritik und Begegnungen zwischen nicht behinderten und behinderten Menschen. Für Journalisten hat Leidmedien.de auch eine Reihe von Tipps zusammengestellt, um ihnen zu helfen, über Menschen mit Behinderung zu berichten – ausgewogen und auf Augenhöhe.

Ninia Binias | Foto: Alex Reszczynski