“Und sie bewegen sich doch”

© Jochen Ehmke

© Jochen Ehmke

Zwei Jahre lang haben die Fotografen Jochen Ehmke und Norbert Kaltwaßer – in Zusammenarbeit mit der Professorin für Sozial- und Kulturphilosophie Maria Nühlen – Menschen mit ihrem Rollator fotografiert. Entstanden sind Momentaufnahmen eines Alltags, aus dem der Rollator nicht mehr wegzudenken ist.

Redaktion: Warum haben Sie gerade den Rollator als Protagonisten Ihres neuen Fotoprojektes ausgewählt?

Ehmke: Weil er uns überall begegnet. Menschen mit Rollatoren trifft man heute nicht nur auf der Straße, sondern auch in Museen, in der Kirche oder beim Wandern. Der Rollator ist ein Teil unseres Lebens, insbesondere in den Städten. Wir haben uns so sehr an ihn gewöhnt, dass er uns kaum noch auffällt.

Aber womit hat es bei Ihnen konkret angefangen?

In Halle, gerade in den bürgerlichen Vierteln, liegt fast überall Kopfsteinpflaster. Dazu die hohen Bordsteinkanten – das sind Hindernisse, mit denen nicht jeder zurechtkommt. Diese Momente sind mir aufgefallen. Situationen, in denen Menschen trotz Rollator stehen blieben und nicht weiter konnten.

Jochen Ehmke wurde 1936 in Chemnitz geboren und studierte nach seiner Berufsausbildung zum Schlosser Metallografie in Berlin. Er arbeitet überwiegend in themenbezogenen Schwarz-Weiß-Serien, die sich durch ihre empathische und wirklichkeitsnahe Herangehensweise auszeichnen. Noch heute ist Ehmke als freischaffender Fotograf tätig.

Kommt das häufig vor? Sind manche der älteren Menschen tatsächlich mit ihrem Rollator überfordert?

Mit dem Alter hat das wenig zu tun. Der Rollator ermöglicht einem Menschen wieder mobil zu sein, an der Infrastruktur ändert er nichts. Die Leute müssen also lernen, wie man sich mit seinem technischen Helfer auf unebenen Straßen oder in der Bahn verhält. Woher soll man auch wissen, dass man mit seinem Rollator am besten rückwärts in den Bus einsteigt.

 

Und wer bringt Ihnen das bei?

Viele geben sich gegenseitig Tipps. Eine Frau, die ich fotografiert habe, erzählte mir jedoch auch, dass sie extra an einem sogenannten Rollator-Tag teilgenommen hat. Hier wurde ihr nicht nur gezeigt, wie sie bei Nässe richtig bremst, sondern auch wie sie mit ihrem Gehwagen am Besten in den Zug kommt.

Wenn Sie eine interessante Szene erkennen, sprechen Sie die Leute dann einfach an?

Manchmal ja. Allerdings sind gerade ältere Menschen oft skeptisch, wenn man sie einfach so anspricht – darauf hatte mich meine Frau aber schon vorbereitet. Sie ist Professorin und forscht schon lange im Bereich der Gerontologie; sie beschäftigt sich mit der Inszenierung von Alter im Alltag und untersucht, wie Altersstereotype sich seit der Antike verändert haben.

Woher kommt diese Skepsis?

Viele haben Angst vor Überfällen und sind misstrauisch. Ich und mein Kollege Norbert Kaltwaßer haben deshalb einen Aufruf in der Zeitung gestartet und viel mit Verbänden, Stiftungen und Reha-Einrichtungen zusammengearbeitet. Sie haben uns Kontakte vermittelt und erlaubt, die Menschen in ihren Einrichtungen zu fotografieren.

Hat das gut funktioniert?

Ja. Schwierig war mitunter nur die Organisation der Termine. Sie glauben gar nicht, wie wenig Zeit viele Rentner haben. Oft reicht schon ein Termin beim Arzt und der ganze Tag ist blockiert (lacht).

Sie und ihr Kollege Norbert Kaltwaßer fotografieren seit fast zwei Jahre Menschen mit ihren Rollatoren. Langweilt Sie das nicht inzwischen?

Überhaupt nicht. Nur so kann ich die soziale Bandbreite hinter dem Motiv erfassen. In meinem letzten Projekt „Meinesgleichen – Jahrgang 1936“ habe ich beispielsweise nur Personen meines Alters fotografiert. Genervt hat mich das auch nach dem hundertsten Motiv nicht.

Anfang 2015 hat die Paul-Riebeck-Stiftung einen Kalender mit zwölf Bildern von Ehmke und Kaltwaßer herausgebracht. Da es sich hier nur um einen Bruchteil der Fotografien handelt, die in den letzten Jahren entstanden sind, soll demnächst ein Bildband zur Rollator-Serie erscheinen. Aktuell sind Ehmke, Kaltwaßer und Nühlen allerdings noch auf der Suche nach einem Verlag, der das Buch finanziert. Auch über einen Kontakt zu Galerien, die ihre Arbeiten ausstellen, würden sich die beiden freuen. Bislang wurden die Fotografien nur im privaten Umfeld gezeigt.

Trotzdem bleibt der Rollator ein Rollator.

Mir geht es nicht nur um die Bilder, sondern auch um die Begegnungen. Die Rollatoren ähneln sich vielleicht, die Menschen und Situationen jedoch nicht. Für ein Foto bin ich beispielsweise extra zu einer älteren Frau nach Hause gefahren. Als ich ankam, war sie noch beim Wäsche aufhängen im Garten. Ich setzte mich zu ihr und fotografierte sie. Als sie fertig war, gingen wir zurück zum Haus und sie stellte fest, dass sie ihren Schlüssel hatte stecken lassen. Ich kletterte also durch ein Fenster und landete kopfüber in der Abstellkammer. Das sind Momente, die vergisst man nicht. Schwieriger als das Weitermachen ist das Aufhören.

Wie meinen Sie das?

Es gibt immer Situationen, die sie noch nicht fotografiert haben und wenn sie über einen Zeitraum von zwei Jahren nach Menschen mit Rollator Ausschau halten, müssen sie erst mal wieder lernen, die Frau, die mit ihrem Rollator ihren Hund spazieren fährt, nicht als Motiv zu sehen.

Auf einem Foto sieht man eine ältere Frau, die sich gerade auf ihrem Rollator ausruht. Hinter hier sieht man das Schild „Fahrschule“. Ist das gestellt?

Wissen Sie, ich arbeite seit mehr als 50 Jahren als Fotograf (lacht). Der Frau auf dem Bild bin ich einfach hinterhergelaufen. Irgendwann hat die Situation gepasst und ich habe abgedrückt.

Trotz Rollator wirkt eigentlich niemand auf den Fotos „hilfsbedürftig“ – eine bewusste Entscheidung?

Absolut. Mit meinen Bildern will ich niemanden diskreditieren. Beispielsweise haben wir in einer Stiftung auch Menschen mit fortgeschrittener Demenz fotografiert. Die Personen ließen zwar alles mit sich machen, doch waren ihre Gesichter oft verzerrt. Man sah ihnen die Krankheit deutlich an. Solche Fotos haben wir aussortiert. Vielleicht sieht das nicht jeder so, aber für mich hat das auch etwas mit Respekt vor der Würde eines Menschen zu tun.

 

Mussten Sie jemanden überreden, sich mit seinem Rollator fotografieren zu lassen?

Nein. Heute schämt sich glücklicherweise niemand mehr für seinen Rollator. Bei meiner Schwiegermutter war das noch anders. Als meine Frau und ich ihr vor knapp 15 Jahren einen besorgten, weigerte sie sich lange Zeit sogar, mit ihm auf die Straße zu gehen. Sie wohnte in einem kleinen Ort am Niederrhein und in ihrer Umgebung hatte kaum jemand einen Rollator. Irgendwann konnten wir sie überreden, es doch mal zu versuchen. Als sie merkte, dass sie damit wieder alleine einkaufen gehen kann, hat sie die Scham schnell vergessen.

Benutzen Sie eigentlich einen Rollator? Immerhin sind Sie jetzt auch schon 78 Jahre alt.

Um Gottes willen! Noch bin ich fit und man sieht mir mein Alter zum Glück nicht an.

Aber wenn Sie einen bräuchten?

Ja, dann schon. Allerdings würde ich mir sofort eine Kamera vorne draufmontieren. Das gäbe bestimmt ein paar tolle Bilder.

Von li. nach re.: Jochen Ehmke, Prof. Dr. Maria Nühlen, Norbert Kaltwaßer

Von li. nach re.: Jochen Ehmke, Prof. Dr. Maria Nühlen, Norbert Kaltwaßer