„Unseren Schönheitsidealen sind wir nicht hilflos ausgeliefert“

© Impish Lee

Anja Wermann ist studierte Psychologin, bloggt über Lingerie und hat nun ein Coaching-Programm für Frauen entwickelt, die sich endlich in ihrem Körper wohler fühlen wollen. Wie das funktioniert und was Dessous damit zu tun haben, erzählt sie im Interview.

Redaktion: Wie kamen Sie als Diplom-Psychologin auf die Idee, einen Blog über Lingerie zu starten?

Anja Wermann: Ausschlaggebend war eine persönliche Erfahrung. Ich habe selbst ziemlich große Brüste und fand einfach keinen passenden BH. Hinten am Rücken rutschte das Unterbrustband hoch, vorne rutschte es herunter und meine Brüste hatten keinen Halt, purzelten manchmal sogar aus dem BH. Mit 29 erhielt ich dann mein erstes Brafitting.

Das heißt, Sie ließen sich professionell beraten und Ihre Brüste ausmessen.

Genau. Da erfuhr ich, dass ich vorher die ganze Zeit die falsche Größe getragen hatte und eigentlich eine britische BH-Größe 30G brauche. Das entspricht umgerechnet etwa 65I – von dieser Größe hatte ich noch nie etwas gehört, aber der BH passte tatsächlich. Endlich konnte ich mich frei bewegen, traute mich, Dekolleté zu zeigen, ging aufrechter. Ich arbeitete dann sogar selbst einige Zeit als Brafitterin. Um mein Wissen weiterzugeben, startete ich 2014 außerdem meinen Blog „Everyday Boudoir“. In den Umkleidekabinen traf ich immer wieder auf Frauen, die mit ihrem Körper extrem unzufrieden waren. Manche fragten mich sogar, ob ihre Brüste normal seien. Ich merkte: Hier braucht es keine BH-Beraterin, sondern eine Psychologin.

Mit Facebook und Instagram Sehgewohnheiten ändern

Also entwickelten Sie Ihr Angebot „Rock Deinen Körper!”. Was vermitteln Sie den Frauen im Coaching?

Körperakzeptanz. Ich möchte, dass sie sich in ihrem Körper wieder wohlfühlen – egal, ob mit kleinem oder großen Körbchen, mit Kleidergröße 34 oder 54, mit Dehnungstreifen oder ohne. Ich möchte, dass Frauen ihr Leben aus vollem Herzen leben und nicht in der Warteschleife verbringen, weil sie beispielsweise glauben, dass sie vorher erstmal fünf oder 50 Kilogramm abnehmen müssten.

Wie läuft das konkret ab?

Nehmen wir etwa das Schönheitsideal der schlanken, durchtrainierten, dauerstrahlenden Frau, die lachend ins Salatblatt beißt. Dass diese Bilder mit der Zeit beeinflussen, wie wir die Menschen um uns herum, aber auch uns selbst wahrnehmen und bewerten, weiß jeder. Diesen Idealbildern sind wir jedoch nicht hilflos ausgeliefert – vor allem nicht in Zeiten des Internets.

Anja Wermann © Matthias Frie

Befördert das Internet nicht auch den Schönheitswahn?

Wenn wir all die Werbung, die Google uns online zuspielt, nur passiv konsumieren und in den sozialen Medien nur Menschen folgen, die dem gängigen Schönheitsideal entsprechen: auf jeden Fall. Unser Nutzungsverhalten können wir jedoch aktiv gestalten – auch im Netz. Meinen Teilnehmerinnen empfehle ich daher oft einen Ad-Blocker zu installieren, der sie vor Werbung schützt. Frauen, die auf Facebook oder Instagram unterwegs sind, rate ich zudem, auch Plus Size Models und Menschen zu folgen, die sich für Körperakzeptanz einsetzen und zeigen, wie vielfältig Körper aussehen. Das klingt banal, auf Dauer hilft es jedoch, die eigene Wahrnehmung zu ändern. Ein anderes Thema ist die Achtsamkeit.

Bei der Achtsamkeit geht es darum, sich im Alltag selbst zu beobachten.

Genau. Was geht mir durch den Kopf, wenn ich in den Spiegel schaue? Schaue ich überhaupt in den Spiegel? Wie nehme ich meinen Körper wahr? Was fühlt sich für mich gut an? Was mag ich nicht? Ziel der Übung ist es, Frauen wieder mit ihrem Körper in Kontakt zu bringen. Sie sollen wieder fühlen lernen, was sie und ihr Körper wirklich brauchen und was ihnen guttut.

Wenn eine Frau mit ihren Brüsten oder Oberschenkeln unzufrieden ist, wird der bewusste Blick in den Spiegel allein ihr kaum helfen, das zu ändern.

Richtig. Entscheidend ist daher der Perspektivwechsel.

Haben Sie ein Beispiel?

Eine meiner Teilnehmerinnen hatte sich nach der Geburt ihres Kindes von ihrem Mann getrennt und traute sich nun nicht auf Dates. Sie schämte sich für ihre Brüste, die durch das Stillen sehr schlaff geworden waren. Anstatt den fehlenden Halt ihres Busens zu bedauern, machte ich ihr wieder bewusst, was ihre Brüste „geleistet“ haben: Sie hat schließlich nicht nur ein süßes Baby zur Welt gebracht, sondern es auch mit ihrer Muttermilch ernährt. In der Psychologie nennt man das einen Wechsel des Mindset oder auch Reframing.

Das Coaching ist nicht für jeden geeignet

Caroline Sprott, eine junge Bloggerin, hat ein Lipödem, eine schmerzhafte Fettverteilungsstörung, durch die ihre Beine sehr dick geworden sind. Sie war jahrelang mit ihrem Körper unzufrieden. Heute sagt sie: „Meine Beine gehören zu mir, sie sind stark und tragen mich durch die Welt.“ Ein Wechsel des Mindset?

Auf jeden Fall – und genau darum geht es: Eigenschaften, die wir als negativ empfinden, neu zu bewerten und positiv zu konnotieren. Mit anderen Worten: aus der vermeintlichen Schwäche eine Stärke zu machen.

Würden Sie einer Frau, die abnehmen will, um sich in ihrem Körper wohlzufühlen, dabei helfen?

Erst einmal würde ich sie fragen, warum sie mit ihrem Gewicht unzufrieden ist. Mag sie sich so wirklich nicht oder sind es eher die Stimmen von außen, die ihr sagen, dass sie nicht richtig ist, und die sie im Laufe ihres Lebens verinnerlicht hat? Bleibt ihr Fokus dann das Abnehmen, würde ich ihr auch in diesem Fall helfen, einen Wechsel des Mindset zu erreichen. Ein Ziel wäre beispielsweise, dass sie nicht nur verbissen Sport treibt, um Kalorien zu verbrennen, sondern dass sie sich in erster Linie bewegt, weil die Bewegung ihr gut tut – nicht nur körperlich, sondern auch psychisch. Mein Motto lautet darum auch: „Beweg Deinen Körper, weil Du ihn liebst, nicht weil Du ihn hasst“. Meine psychologische Beratung hat allerdings auch Grenzen.

Welche zum Beispiel?

Bei Essstörungen und Adipositas bin ich tatsächlich nicht die richtige Ansprechpartnerin. Das sind ernstzunehmende Erkrankungen, bei denen ich eine Therapie empfehle.

Wie gehen Sie sicher, dass die Frauen, die Sie beraten, mit ihrem Körper „nur“ unzufrieden sind und keine klinische Störung haben?

Vor Beginn des Coachings gibt es immer ein ausführliches Kennenlerngespräch. Außerdem lasse ich die Frauen einen Fragebogen ausfüllen, der alle wichtigen Diagnosen abfragt. Spricht die Auswertung nicht dagegen, kann die Beratung beginnen.

Das Thema Dessous spielt in Ihren Coachings anscheinend keine Rolle.

Schöne Wäsche stärkt auf jeden Fall das Selbstbewusstsein – ebenso wie das Wissen, dass es Lingerie und BHs in der eigenen Größe gibt. Darum blogge ich mit „Everyday Boudoir“ auch genau über diese Themen. Bei „Rock Deinen Körper!“ spielt Wäsche jedoch nur eine untergeordnete Rolle.