Von Jahr zu Jahr werden in Deutschland mehr Antidepressiva verschrieben. Ihre Wirksamkeit wird jedoch bezweifelt. Tom Bschor, Chefarzt der Abteilung Psychiatrie der Berliner Schlosspark-Klinik und Mitautor der deutschen Versorgungsleitlinie für Depression erklärt, wann Medikamente helfen und was es mit therapeutischem Schlafentzug auf sich hat.
Redaktion: Studien zeigen, dass Antidepressiva kaum besser wirken als ein Placebo, also ein Scheinmedikament. Warum werden sie trotzdem verordnet?
Tom Bschor: Der Placeboeffekt ist ja nichts Schlechtes. Er aktiviert Selbstheilungskräfte und bewirkt, dass es den Menschen besser geht. Aber es stimmt: Nachweislich lässt sich nur ein Viertel der Wirkung eines Antidepressivums auf einen echten pharmakologischen Effekt zurückführen. Der Rest ist Placebo-Wirkung und natürlicher Verlauf – Depressionen gehen manchmal von alleine wieder weg.
Warum verschreiben Sie Ihren Patienten dann nicht einfach Traubenzucker?
Bei schweren Depressionen helfen Antidepressiva durchaus – auch wenn wir noch nicht genau wissen warum. Außerdem sinkt die Placebo-Wirkung, sobald die Betroffenen wissen, dass sie nur ein Scheinmedikament bekommen. Und heimlich dürfen wir keine Zuckerpillen verordnen. Ärzte haben schließlich die Pflicht, den Patienten über die Behandlung aufzuklären.
Klären sie Ihre Patienten denn auch über den tatsächlichen Wirkmechanismus des Antidepressivums auf?
Aufklären muss man über Risiken und Nebenwirkungen. Die Pflicht, über das Ausmaß des Placeboeffekts zu informieren, hat der Arzt tatsächlich nicht. Ich würde es in der Regel auch eher nicht tun, da mit dem Wissen oft auch die Placebo-Wirkung nachlässt.
Der Mythos vom Serotoninmangel
Was ist, wenn der Patient nachfragt?
Dann sollte sein Arzt ihm ehrlich antworten, was er von dem Medikament erwarten kann. Wichtig ist auch, dass wir Ärzte unsere Patienten nicht zur Einnahme von Antidepressiva überreden – denn ist der Betroffene ängstlich und fühlt sich zur Therapie gedrängt, wird auch kein positiver Placeboeffekt eintreten. In der Praxis kommt das Überreden von Patienten leider zu häufig vor. Unter anderem auch, weil manche Ärzte sich mit den Antidepressiva, die sie verordnen, zu wenig auskennen.
Wie wirken Antidepressiva denn tatsächlich?
Die meisten glauben, dass Depressionen durch einen Serotoninmangel im Gehirn verursacht werden, der sich durch Medikamente beheben lässt.
Und das stimmt nicht?
Antidepressiva erhöhen zwar die Serotoninkonzentration im Gehirn, doch daraus lässt sich nicht schließen, dass vorher ein Serotoninmangel bestand. Außerdem tritt die Serotoninerhöhung bereits nach wenigen Minuten, also fast sofort ein. Dem Patienten geht es hingegen erst nach gut vier Wochen besser. Seit einiger Zeit gibt es in Deutschland sogar ein Antidepressivum, das genau entgegengesetzt funktioniert und die Konzentration von Serotonin verringert. Trotzdem wirkt es genauso gut, an genauso vielen Patienten, in genau derselben Zeit. Einen einzigen Botenstoff für Depression verantwortlich zu machen, ist schlicht weg zu simpel.
Warum hält sich diese Mär trotzdem?
Weil es an den Universitäten so gelehrt wird und Patientenbroschüren das Märchen dankbar aufgreifen. Schließlich stellt die Theorie alle Beteiligten zufrieden: Die Patienten bekommen eine Erklärung, was mit ihnen los ist, und ein Medikament, das ihnen oft tatsächlich hilft. Ärzte können auf dieser Basis ein Heilmittel anbieten und die Firmen können ihre Tabletten verkaufen.
Viele Betroffene sind trotz Antidepressiva dauerhaft krankgeschrieben
Aber wie konnte so eine falsche Erklärung überhaupt bis in die Vorlesungen kommen?
Das Marketing der pharmazeutischen Industrie hält das Modell bis heute am Laufen. Viele Ärzte gehen zu Fortbildungen und Kongressen, die von Pharmafirmen organisiert werden. Die Studien, die dort präsentiert werden, stellen die wenigsten infrage. Ärzte müssen lernen, ihre eigene Behandlung kritisch zu hinterfragen.
Wie meinen Sie das?
Wenn ein Patient auf ein Antidepressivum und vielleicht auch auf ein zweites nicht anspricht, sollte ich darüber nachdenken, auf eine medikamentöse Behandlung zu verzichten.
Und das passiert nicht?
Die meisten Ärzte „medikamentieren“ so lange herum, bis sie meinen, das beste Antidepressivum gefunden zu haben. Kaum jemand gesteht sich ein: „Hier, in diesem Fall, helfen Pillen einfach nicht.“ Manche Patienten nehmen seit über zehn Jahren Antidepressiva ein, sind dauerhaft krankgeschrieben und trotzdem wird das Medikament nicht abgesetzt.
Was ist die Alternative?
Zum Beispiel eine Psychotherapie, wie sie die Nationale Versorgungsleitlinie zur Depression empfiehlt. Außerdem stützende, entlastende therapeutische Gespräche, eine sinnvolle Strukturierung des Alltags, die gezielte Suche nach positiven Erlebnissen, das Aufsuchen von Selbsthilfegruppen, Sport – welche Methode die sinnvollste ist, hängt natürlich von der Art und vom Grad der Depression ab. Was auch hilft, und was momentan noch viel zu selten gemacht wird, ist Schlafentzug.
Gegen die Depression?
Ja.
Schlafphasen-Vorverlagerung
Ein Versuch, den therapeutischen Effekt des Schlafentzugs zu erhalten, ist die Schlafphasen-Vorverlagerung. Hier schläft der Patient nach einer durchwachten Nacht ganz normal sieben Stunden am Stück, jedoch zu ungewöhnlichen Zeiten. Etwa von 17 Uhr bis Mitternacht, am nächsten Tag von 18 Uhr bis 1 Uhr, dann von 19 bis 2 Uhr usw. – auf diese Weise nähert sich der Patient dem natürlich Schlafrhythmus wieder an.
„Die Stimmung hellt sich auf“
Und was bedeutet „Schlafentzug“?
Das heißt, dass ein Patient ersatzlos eine Nacht wach bleibt. Kein Nickerchen, nicht mal fünf Minuten. Bereits am nächsten Tag geht es den meisten deutlich besser: Die Stimmung ist aufgehellt, sie nehmen die Dinge nicht so schwer, albern manchmal herum – etwas, was im Grunde jeder kennt, der mal eine Nacht durchgemacht hat.
Hält der Effekt denn an?
Nein. Das ist der einzige Nachteil. Für den Betroffenen ist es jedoch ein sehr eindrucksvolles Erlebnis zu sehen, dass sich seine Stimmung ändern kann und die Depression nicht in Stein gemeißelt ist. Spricht der Patient auf den Schlafentzug an, kann man den Vorgang wiederholen.
Was ist Ihrer Erfahrung nach das Entscheidende bei der Behandlung von Depressionen?
Wichtig ist, dass wir die Therapie auf viele Beine stellen und neben der Behandlung mit Medikamenten andere Behandlungsformen nicht vergessen. Antidepressiva, Psychotherapie, Schlafentzug, der Austausch mit anderen Betroffenen schließen sich nicht aus. Im Gegenteil, sie sollten ergänzend eingesetzt werden.
Mehr Wissen: So berechnet sich die Wirkung von Antidepressiva
Bereits 1998 wollten britische Forscher herausfinden, wie gut Antidepressiva tatsächlich wirken. Hierfür verglichen sie mehrere Studien zu jeweils unterschiedlichen Behandlungsmethoden und berechneten daraus, wie gut die einzelnen Therapien wirkten. Die Effektstärke wird mit dem Differenzmaß d angegeben. Je größer d, desto größer die Wirkung. Differenzen unter d = 0,20 gelten als vernachlässigbar, ab 0,50 als mittel und ab 0,80 als groß. Verglichen wurden:
Menschen mit Depressionen, die entweder …
- … Antidepressiva einnahmen (Ergebnis: d = 1,55)
- … ein Placebo bekamen (Ergebnis: d = 1,16)
- … psychotherapeutisch behandelt wurden (Ergebnis: d = 1,60)
- … oder auf der Warteliste für eine Psychotherapie standen. Die Gruppe bekam weder ein Placebo noch ein Antidepressivum und stand damit für den natürlichen Verlauf. (Ergebnis: d = 0,37)
Danach war Rechnen angesagt:
- Die pharmakologische Wirkung von Antidepressiva errechneten die Forscher, in dem sie die Effektstärke des Placebos von der der Antidepressiva abzogen. (1,55 – 1,16 = 0,37 d )
- Die Effektstärke der Placebo-Wirkung minus die Effektstärke des natürlichen Verlaufs ergab den tatsächlichen Placeboeffekt. (1,16 – 0,37 = 0,79 d)
Umgerechnet in Prozenten heißt das: Gut die Hälfte der Wirkung eines Antidepressivums lässt sich auf eine Placebo-Wirkung zurückführen, ein Viertel auf einen echten pharmakologischen Effekt und ein Viertel ist natürlicher Verlauf.