„Unsicherheit ist vollkommen normal“

Der Kampagnenfilm der Aktion Mensch „Das erste Mal“ zeigt, was passiert, wenn sich Menschen mit und ohne Behinderung unvorbereitet begegnen. Warum der Film offensichtlich einen Nerv trifft, darüber sprachen wir mit der stellvertretenden Pressesprecherin Caroline Hendricks.

Redaktion: Stimmt es, dass die Teilnehmer Ihres Castings nicht alleine auf Toilette durften?

Caroline Hendricks: Doch, das durften sie. Sie sollten uns vorher nur Bescheid sagen. Es war ja wichtig, dass sich die beiden Gruppen – also die Schauspieler mit und die ohne Behinderung – nicht unvorhergesehen auf den Gängen begegneten.

Warum das Versteckspiel?

Sie sollten nicht wissen, worum es uns ging. Wir wollten tatsächlich ihre allererste Begegnung einfangen. Als Volker mit seinem Rollstuhl hereinfuhr und Ulrike klar wurde, dass er ihr Casting-Partner sein würde, war sie mit der Situation anfangs überfordert. Sie stand stocksteif da und .das Lächeln, mit dem sie hereingekommen war, verschwand. Das war authentisch – so etwas kann man nicht spielen.

Und dann?

Sie bereiteten sich gemeinsam aufs Casting vor und lernten sich kennen. Am Ende sagte Ulrike: „Komm wir gehen“. Als Volker erwidert „Ich kann nicht gehen“, kontert sie locker: „Na, dann rollen wir eben!“ Ab dem Moment war klar: Berührungsängste hat da keiner mehr!

In der Zwickmühle

Warum verunsichern uns Menschen mit einer Behinderung?

Wir wollen nichts falsch machen. In meinem Studium hatte ich einen Kommilitonen, der ab dem Oberschenkel amputiert war. Seine Prothese fiel kaum jemandem auf. Mir schon. Allein das Wissen, dass er eine trug, machte mich unsicher.

Das Gefühl kennt wohl jeder. Aber wie lässt sich das erklären?

Für mich war das eine Zwickmühle. Spreche ich den anderen auf seine Behinderung an, fühlt er sich vielleicht auf seine Behinderung reduziert. Ignoriere ich die Prothese, steht etwas Unausgesprochenes zwischen uns.

Und wie ging die Sache aus?

Ich nahm all meinen Mut zusammen und sprach ihn auf seine Behinderung an. Der Kommilitone reagierte völlig locker und von da an war seine Behinderung zwischen uns kein Thema mehr.

Sind wir vielleicht deshalb so befangen, weil uns die Erfahrung im Umgang miteinander fehlt?

Absolut. Tatsächlich begegnen sich Menschen mit und ohne Behinderung im Alltag doch sehr selten. Sieht jemand anders aus oder verhält sich anders, als wir es gewohnt sind, fühlen wir uns schnell überfordert.

Sich persönlich begegnen

Wie überwinde ich diese Unsicherheit?

Indem ich mich trotz aller Hemmungen auf diesen anderen Menschen einlasse und ihn ganz unvoreingenommen kennenlerne. Irgendwann denkt man über den Rollstuhl oder die Prothese des anderen nicht mehr nach – das ist auch die Botschaft unseres Films.

Persönliche Begegnungen sind also der Schlüssel für einen natürlichen Umgang?

Ja. Und je früher wir solche Begegnungen „erlernen“, desto unbefangener gehen wir miteinander um. Freundschaften entstehen zwischen Menschen, die ein Annähern zulassen.

Ich war als Kind auf einer Inklusionsschule, trotzdem habe ich nicht einen Freund mit einer Behinderung.

Nur, weil ich jemanden kennenlerne, der eine Behinderung hat, müssen wir ja keine Freunde werden – ich muss ihn übrigens auch nicht mögen. Wichtig ist nur, dass wir in unserer Gesellschaft die Möglichkeit haben, einander zu begegnen. Tatsächlich geschieht das immer noch viel zu selten – trotz Inklusion.

Facebook-Freunde

Hilft das Internet, oder trennt es uns noch weiter?

Gerade für Menschen mit einer körperlichen Behinderung sind soziale Netzwerke wie Facebook, Twitter und Instagram unheimlich wichtig. Viele twittern nicht nur regelmäßig oder schreiben einen eigenen Blog, sie lernen sich übers Internet überhaupt erst kennen.

Caroline Hendricks © Aktion Mensch

Caroline Hendricks © Aktion Mensch

Haben Sie ein Beispiel?

Mareice hat zwei Töchter – eine mit, die andere ohne Behinderung. Über ihr Familienleben schreibt sie den Blog „Kaiserinnenreich“. Anastasia sitzt im Rollstuhl und hat das Projekt „anderStark“ ins Leben gerufen. Die beiden Bloggerinnen lernten sich über ihre Internetaktivitäten kennen. Heute sind sie befreundet.

Virtuelle Begegnungen sind also genauso wichtig wie solche im realen Leben?

Auf jeden Fall. Das sieht man auch bei unseren Casting-Teilnehmern.

Die haben sich aber nicht im Netz kennengelernt.

Nein. Aber gleich nach dem Casting haben sie eine eigene Facebook-Gruppe gegründet, der mittlerweile viele der Casting-Teilnehmer angehören.