Warum nur sind wir so unvollkommen?

Die Evolutionsmedizin bietet überraschende Antworten auf Millionen Jahre alte Fragen. In „Der Fluch unserer Gene“ erzählt der britische Wissenschaftsjournalist Jeremy Taylor, warum Zivilisationskrankheiten entstehen, wenn altes Erbgut und moderne Lebensumstände nicht zusammenpassen.

Stewart Johnson und seine Frau waren verzweifelt. Ihr Sohn Lawrence schlug um sich, stieß seinen Kopf gegen die Wand, biss sich selbst in den Arm. Die Ärzte diagnostizierten schweren Autismus. Antidepressiva, Antipsychotika, Lithium – kein Medikament half.

Eines Tages kam Lawrence übersät mit Sandflohstichen nach Hause. Und verhielt sich plötzlich völlig normal. Die Eltern begannen zu recherchieren und begriffen: Ihr Sohn war nicht autistisch. Er litt unter einer seltenen Autoimmunkrankheit. Das aggressive Verhalten rührte daher, dass sein Immunsystem sich ständig selbst angriff. Kämpfte es hingegen mit den Auswirkungen der Flohbisse, ging es Lawrence gut.

© Riemann Verlag

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Die Fälle, von denen der britische Wissenschaftsjournalist Jeremy Taylor in seinem Buch „Der Fluch unserer Gene“ berichtet, lesen sich oft wie kleine Kriminalgeschichten. Aufgelöst werden sie meist mithilfe überraschender Erkenntnisse aus der Evolutionsmedizin. Die zentrale Frage dieser forschenden Disziplin lautet: „Warum sind wir so unvollkommen?“

Ja, warum halten unsere Knie das Joggen auf hartem Grund nicht aus, und warum vererben wir überhaupt Genausprägungen, die uns anfälliger machen für Gefäßverstopfungen? Jeremy Taylor sagt: Die biologische Evolution des Menschen kommt einfach nicht so schnell voran wie der kulturelle Wandel – unser Körper kann nicht Schritt halten mit der gesellschaftlichen Entwicklung.

Mein Freund, der Bandwurm

Wir Menschen haben einen großartigen Körper, nur ist dessen Bauplan in manchen Teilen schon viele Millionen Jahre alt. Genauso wie das Wirksystem, in dem wir leben. Manches, was uns zugute kommt, erkennen wir heute nicht mehr als positiv an. Unsere „alten Freunde“ – Bakterien, Parasiten und Würmer – merzen wir durch zu viel Hygiene aus, obwohl sie uns eigentlich vor schlimmeren Krankheiten schützen. Deshalb wird der Säugling bei der Geburt mit einer schillernden Vielfalt von Mikroben aus Vagina und Anus überzogen. Der Mensch aber hat in seinem „Sauberkeitswahn“ schon über 90 Prozent dieser Wurmorganismen vernichtet. Und genau das, so Jeremy Taylor, mache uns eben viel anfälliger für Asthma, Allergien und Autoimmunkrankheiten – wie jene, an der Lawrence litt.

Taylor erzählt auch, dass die evolutionäre Entwicklung unseres aufrechten Ganges geradewegs zum Volksleid Rückenschmerz führte und wie etwa die Einnahme von Breitbandantibiotika die Verbreitung von Diabetes und Fettleibigkeit begünstigt. Die Zusammenhänge, die der Autor herstellt, sind komplex. Doch er nimmt sich die nötige Zeit, um auch dem unkundigen Leser jede Theorie anhand von Fallbeispielen eingehend zu erklären.

Das Benutzen medizinischen Fachvokabulars kann Taylor sich leider nicht immer verkneifen. „Der Fluch unserer Gene“ ist auch deshalb mitunter keine leichte Kost. Dennoch eröffnet das Buch neue Perspektiven auf das Potenzial der Evolutionsmedizin für das Verständnis und die Behandlung moderner Krankheiten.

„Der Fluch unserer Gene. Warum Volkskrankheiten entstehen und wie die Evolutionsmedizin hilft“ ist im November 2015 im Riemann Verlag erschienen und kostet 19,99 Euro.