60 Quadratmeter Grundversorgung und ein Auto

© Tobias Gratz

© Tobias Gratz

Bevölkerungsrückgang und Überalterung treffen ländliche Regionen besonders hart. Immer weniger Ärzte wollen hier praktizieren, aber auch andere Bereiche der Gesundheitsversorgung stehen unter Druck – etwa die Sanitätsfachgeschäfte. Ein Besuch in Anklam, unweit der polnischen Grenze.

Es ist 8.30 Uhr, die meisten Praxen des Ärztehauses in der Leipziger Allee der Hansestadt Anklam sind noch geschlossen. Auch bei Kerstin Tuchen ist die Tür noch zu. Die 48-Jährige leitet eines der 60 Sanitätsfachgeschäfte des Hilfsmittelversorgers OTB im Innenhof des dreistöckigen Neubaukomplexes. Eine halbe Stunde hat Tuchen noch Zeit, bis die ersten Kunden kommen. Sie fährt den Computer hoch, rückt ihre Brille zurecht und sortiert dann zusammen mit ihrer Kollegin Maria Bluhm die Bandagen ein, die am Abend zuvor geliefert wurden. Bluhm reißt die Kartons auf und Tuchen räumt die Ware in die richtigen Fächer.

Dann klopft es draußen an die Scheibe. Vor dem Sanitätsfachgeschäft steht eine ältere Frau und wedelt mit einem Rezept. Tuchen legt die Bandage, die sie gerade in der Hand hält, zur Seite, greift nach dem Schlüssel und öffnet die Tür – mit einem Lächeln. Offiziell geöffnet wird zwar erst um 9 Uhr, aber für ihre Kunden macht Tuchen auch mal eine halbe Stunde früher auf.

Die meisten Kunden, die kommen, sind Rentner aus den umliegenden Gemeinden. Wenn sie in dem kleinen viereckigen Innenhof des Ärztehauses angelangt sind, haben sie oft eine lange Fahrt hinter sich. Sind sie schon mal in der Stadt, ist einiges zu erledigen: der Besuch beim Hausarzt, der Brillencheck beim Optiker, der Einkauf im Supermarkt. Wer nachmittags den letzten Bus nach Ziethen, Ducherow oder Rossin verpasst, muss sehen, wie er nach Hause kommt.

Generell ist es um die medizinische Versorgung auf dem Land schlecht bestellt. Doch während über Praxissterben und Ärztemangel längst und breit diskutiert wird, spricht über die Hilfsmittelversorgung kaum jemand.

Vier Stunden für Hin- und Rückfahrt sind keine Seltenheit

Im Jahr 2014 veröffentlichte der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen einen 405 Seiten dicken Wälzer mit dem Titel „Bedarfsgerechte Versorgung − Perspektiven für ländliche Regionen und ausgewählte Leistungsbereiche“. Sanitätsfachgeschäfte werden an keiner Stelle erwähnt. Auch in der Bedarfsplanung der gesetzlichen Krankenkassen und der Kassenärztlichen Vereinigungen spielen sie keine Rolle.

In Anklam gibt es insgesamt drei Sanitätsfachgeschäfte. Das klingt nach viel für einen Ort, der gerade mal 12.500 Einwohner hat, – ist es aber nicht. Denn die drei Sanitätshäuser versorgen nicht nur die kleine Hansestadt, sondern auch große Teile der umliegenden Region. „Gut 30 Kilometer umfasst unser Einzugsgebiet“, sagt Tuchen.

 

Wie viele andere ländliche Regionen Deutschlands ist auch Mecklenburg-Vorpommern von Abwanderung betroffen. Vor dem Mauerfall lebten knapp zwei Millionen Menschen in dem Land zwischen Schwerin und der polnischen Grenze. Seither hat das Land fast ein Viertel seiner Einwohner verloren. Heute ist die Region an der Ostsee das am dünnsten besiedelte Bundesland.

Was die Natur freut, ist für Tuchen und ihre Kunden ein ernstes Problem. „Mit dem Bus“, erzählt die Fachkraft, „brauchen manche von ihnen bis zu vier Stunden für die Hin- und Rückfahrt.“ Wer nicht mehr gut zu Fuß ist und niemanden hat, der ihn fährt, überlegt zweimal, ob er den Weg über die holprige Landstraße tatsächlich auf sich nimmt, um sein Hilfsmittel-Rezept einzulösen.

In die Anklamer OTB-Filiale kommen immer wieder ältere Frauen, die ihre Kompressionsstrümpfe selbst repariert haben. Obwohl ihnen alle sechs Monate ein neues Paar zusteht, flicken sie die Löcher und Laufmaschen der alten Strümpfe und warten, bis es gar nicht mehr geht. „So sparen die Krankenkassen vielleicht ein paar Euro“, sagt Kerstin Tuchen, „den Venen helfen alte Strümpfe allerdings weniger.“

Früher gab es nur Nagelscheren und fleischfarbene Strümpfe

Die 48-Jährige mit den kurzen, blonden Haaren ist in Ueckermünde am schönen Stettiner Haff aufgewachsen und hat bereits zum Ende der DDR-Zeit im Sanitätsfachhandel gearbeitet. Als sie in ihrem ersten Geschäft anfing, war sie gerade Mitte 20. Dann kam die Wende, Tuchen zog in den Westen nach Schleswig-Holstein und gründete eine Familie. Seit gut drei Jahren ist sie wieder zurück in der Heimat und lebt mit ihrem Mann und der elfjährigen Tochter in Mönkebude, einem kleinen Dorf gut 30 Kilometer von Anklam entfernt.

Seit 2015 arbeitet sie in der Hansestadt in der OTB-Filiale. „In der DDR“, erzählt sie, „hatten wir nicht viel mehr als Rollstühle, fleischfarbene Kompressionsstrümpfe und Nagelscheren im Angebot.“ Seither hat sich eine Menge verändert. Inzwischen gibt es in Großstädten moderne, attraktive Sanitätshäuser, die nicht mehr nach Krankheit aussehen, sondern nach Aktivität und Leben. Hinzu kommen Spezialisten, die etwa sensomotorische Einlagen für Skifahrer, High-Tech-Bewegungsanalysen oder auch Fallschirmspringer-Equipment für Rollstuhlfahrer anbieten.

Tuchen findet so etwas toll. „Bei uns geht es aber vor allem um die Grundversorgung“, sagt sie. Neben dem Eingang der kaum 60 Quadratmeter großen Filiale stehen mehrere Rollatoren, in den Regalen stapeln sich Bandagen und links am Tresen baumelt neben einem großen blauen Gymnastikball eine Farbpalette für Kompressionsstrümpfe. Im hinteren Teil gibt es dazu noch eine kleine Orthopädiewerkstatt und eine Beratungskabine, in der auch Fuß- oder Beinprothesen angepasst werden. Seit es sich in Anklam herumgesprochen hat, dass OTB Frauen mit Brustkrebs versorgt, kommen immer mehr Betroffene mit einem Rezept für eine Brustprothese hierher.

Maria Bluhm steht am Computer und legt ein Rezept für einen Diabetiker und seine Teststreifen an. Die 25-Jährige mit den langen, schwarzen Haaren ist erst seit kurzem dabei, Kollegin Tuchen steht hinter ihr und gibt Tipps, wie sie bei den vielen Bestellnummern nicht die Übersicht verliert. Bluhm ist gelernte Krankenschwester, was ihr bei der neuen Tätigkeit im Sanitätsfachgeschäft natürlich nutzt.

„Ich hätte anfangs nicht gedacht, dass die Arbeit hier so komplex ist“, gesteht Bluhm. Die mitunter sehr komplizierte Versorgungs- und Abrechnungskette, ausgehend vom Patienten über Ärzte und Klinken bis hin zu den Krankenkassen, mit all den gesetzlichen Vorgaben, den Kostenvoranschlägen, den Auf- und Zuzahlungen, erzeugt extrem viel Aufwand. „Bestimmt die Hälfte unserer Arbeit hat mit Bürokratie zu tun.“

Immer mehr Betreuung findet zu Hause statt

Trotzdem macht der jungen Frau die Arbeit Spaß. Was sie im Sanitätsfachgeschäft besonders genießt, ist der enge Kontakt zu den Kunden – nur hätte sie für den manchmal gerne mehr Zeit. „Einem Menschen, der sich bei einem Unfall das Bein gebrochen hat“, sagt sie, „kann ich doch nicht einfach die Orthese in die Hand drücken.“

Schon heute ist fast jeder Dritte in Anklam über 65 Jahre alt. Statt Familien mit Kinderwagen spazieren im Park Senioren mit ihrem Rollator. Gleich gegenüber von der OTB-Filiale befindet sich die Seniorenresidenz „Am Stadtpark“ und nur wenige Straßen weiter hat das „Gesundheits- und Pflegezentrum Anklam“ aufgemacht. Der Standort ist dafür ideal; der Großteil der Bewohner stammt aber nicht aus der Region.

Die meisten Anklamer wollen auch gar nicht in Heime oder Pflegeeinrichtungen. „Die Betreuung alter oder kranker Menschen“, sagt Jonas Völker vom Bundesinnungsverband für Orthopädie-Technik, „wird sich gerade auf dem Land immer mehr in das Zuhause der Kunden verlagern.“ Und das gilt auch für die Versorgung mit medizinischen und orthopädischen Hilfsmitteln.

Sobald die neue Kollegin eingearbeitet ist, will sich auch Kerstin Tuchen auf die Versorgung von Patienten und Kunden vor Ort konzentrieren. Mit ihrem kleinen Dienstwagen wird sie dann vor allem Hausbesuche machen: Bandagen, Strümpfe oder Pflegehilfsmittel liefern, aber auch jene Menschen zu Hause beraten, die es selbst nicht mehr in die Filiale schaffen.

© Tobias Gratz

© Tobias Gratz

Was so schön klingt, schafft allerdings ein Problem: höhere Kosten. „Eine zweistündige Fahrt, um eine Toilettensitzerhöhung auszuliefern, ist nicht wirtschaftlich“, sagt Sonja Brandenburg, die für OTB die Region Mecklenburg-Vorpommern leitet. Versorgt wird natürlich trotzdem. Es braucht also zusätzliche Anstrengungen, etwa durch die Versorgung von Patienten in Pflegeeinrichtungen oder auch in Kliniken. „Ohne solche Kooperationen“, so die Regionsverantwortliche, „wären die ländlichen Filialen nicht wirtschaftlich zu betreiben.“

Vom Sanitätshaus zur Begegnungsstätte mit Café?

Doch auch das wird langfristig kaum reichen. Einige Unternehmen werden sich aus dem Markt verabschieden – wer übrig bleiben will, muss sich etwas einfallen lassen. Bei Tuchen und Bluhm gibt es bereits regelmäßig Informationstage und Veranstaltungen zu unterschiedlichen Gesundheitsthemen. An den sogenannten „Rollatortagen“ können Interessierte etwa den Umgang mit hohen Bordsteinkanten und Kieswegen trainieren.

Demnächst sollen Autorenlesungen und kleine Modenschauen dazukommen. Vielleicht auch eine Nordic Walking-Veranstaltung. „Die könnte Jüngere und Ältere zusammenbringen“, sagt Maria Bluhm. „Womöglich können wir sogar eine kleine Laufgruppe gründen.“ Chefin Sonja Brandenburg könnte sich auch vorstellen, aus den Filialen eine Art Begegnungsstätte zu machen: „Vielleicht sogar mit einem kleinen Café.“

Bis dahin ist es allerdings noch ein weiter Weg. Das weiß auch Kerstin Tuchen. Es ist 18 Uhr und sie macht Feierabend. Sie steckt das grüne Firmenhalstuch, das sie während der Arbeitszeit trägt, in die Hosentasche, steigt in ihren weiß-grünen Corsa und macht sich über die holprige Landstraße auf den Heimweg zu Mann und Tochter. Jedenfalls fast.

Auf dem Weg dorthin legt sie noch einen Zwischenstopp in Ducherow ein. In dem kleinen Dorf am Rande der Ueckermünder Heide wohnt eine ältere Dame, die auf ein Paar Kompressionsstrümpfe wartet. Tuchen hält vor ihrem Haus, klingelt und liefert die Bestellung persönlich aus. „Für mich ist das ein kleiner Schlenker“, sagt sie, „aber meine Kundin spart sich einen ganzen Weg.“