Menschen mit einer bipolaren Störung erleben ihre Gefühle meist viel intensiver als andere – leider nicht nur die positiven. Sebastian Adam* erzählt uns, wie er die Krankheit wahrnimmt und was sie für seinen Alltag bedeutet.
Redaktion: Du bist bipolar. Was heißt das eigentlich?
Sebastian Adam: Ich pendele immer zwischen zwei Gefühlswelten. Früher nannte man die Krankheit auch manisch-depressiv. Asiaten kennen diesen regelmäßigen Wechsel zweier Gegensätze als Ying und Yang. Die Bipolarität ist allerdings kein harmonischer, in sich geschlossener Kreislauf, sondern extrem anstrengend.
Wie fühlst du dich in einer manischen Phase?
Als könnte ich die Welt aus den Angeln reißen. Ich bin gut gelaunt, rede viel, habe Assoziationssprünge, bin kreativ, sehe die Welt durch eine rosarote Brille.
Das klingt super.
Ich leide aber auch an extremer Selbstüberschätzung, überschreite soziale Grenzen und mache Dinge, die ich normalerweise nicht tun würde.
Zum Beispiel?
In der Werbeagentur, in der ich früher arbeitete, herrschte bei wichtigen Terminen Anzugpflicht. Ich kam stattdessen in weiten Seemannshosen, einem blau-weiß gestreiften T-Shirt und Flip-Flops ins Büro. Außerdem schlief ich mit vielen Frauen, von denen ich unter normalen Umständen nichts gewollt hätte. Oft joggte ich aber auch nur stundenlang durch die Stadt. Irgendwo musste die Energie ja hin.
Antidepressiva helfen nicht
Ziemlich anstrengend.
Das ist es. Deswegen folgt auf die manische die depressive Episode. Sie holt dich wieder runter.
Die Depression hat also einen gewissen Zweck?
Absolut. Nur fühle ich mich durch sie trotzdem beschissen, bin niedergeschlagen und antriebslos.
Wann hast du gemerkt, dass du bipolar bist?
Tatsächlich erst vor gut fünf Jahren, also mit Anfang 30.
Und davor?
Meine ersten depressiven Phasen hatte ich mit 18. Als ich das ganze Wochenende nicht aus dem Bett kam, rief mein Vater einen Psychologen an. Der sagte: „Es ist Winter, Ihr Sohn braucht einfach ein bisschen Sonne. Das geht vorbei.“ Später bekam ich Tabletten.
Gegen die Depression?
Genau. Allerdings helfen Antidepressiva bei einer bipolaren Störung nicht. Die Tabletten mindern zwar die Depressivität, aber nicht die Manie – oft verstärken sie diese sogar. Die Krankheit zu diagnostizieren, ist allerdings auch nicht einfach. Die Ärzte sehen den Patienten meist nur, wenn er depressiv, aber nicht, wenn er manisch ist.
Ein Leben ohne Gefühlsspitzen
Was passierte vor fünf Jahren?
Da fielen bei mir Depression und Manie ineinander. Das nennen Ärzte einen Mischzustand. Ich lief durch die Kastanienallee in Berlin und dachte, ich werde verrückt. Ich war müde und hellwach. Tieftraurig und total happy. Alles zur gleichen Zeit. Ich war überzeugt: „Jetzt ist es so weit. Jetzt schneidest du dir ein Ohr ab.“
Und dann?
Irgendwann stand ich vor dem St. Hedwig-Krankenhaus in Berlin-Mitte, ging hinein und wies mich selbst ein. Die Ärztin untersuchte mich und sagte: „Herr Adam, Sie sind manisch-depressiv.“
Eine Erleichterung?
Total. Endlich wusste ich, was los ist und bekam die passenden Medikamente.
Wie fühlst du dich heute?
Wie ein Roboter. Ich funktioniere zwar, aber es gibt nur noch wenige Gefühlsspitzen. Mein Psychiater meint, das sei normal. Früher lebte ich immer zwischen zwei Extremen. Das, was ich jetzt empfinde, entspricht vermutlich der Norm – nur bin ich diese Normalität nicht gewohnt.
Vermisst du die Manie?
Ich vermisse die Intensität der Empfindungen. Etwa beim Musikhören. Heute lasse ich das Radio lieber aus. So werde ich wenigstens nicht enttäuscht. Schwierig ist auch, dass ich meinen Gefühlen oft misstraue. Bin ich gerade wirklich glücklich, oder habe ich einen manischen Schub? Emotionen triggern die Krankheit, daher ist es am besten, starke Gefühle zu vermeiden und die Tage klar zu strukturieren.
Bipolarität ist eine ganz normale Krankheit
Das heißt?
Keine Reisen, kein Alkohol, kein Stress.
Verliebtsein …
… ist gefährlich.
Das klingt recht trist.
Mag sein. Trotzdem sehe ich die Sache positiv. Statt zu jammern, schaue ich lieber nach vorne und überlege mir, was ich in Zukunft machen will.
Du fühlst dich also auf einem guten Weg?
Ja. Was mich allerdings stört: Manche Menschen, die von meiner Krankheit wissen, nehmen mich weniger ernst, belächeln mich mitunter sogar. Bricht sich jemand ein Bein, bekommt er einen Gips und gut ist es. Bei Bluthochdruck nimmst du Betablocker ein und keiner findet es komisch. Bist du bipolar, ist es anders. Dabei ist auch Bipolarität eine ganz normale Krankheit.