Die neue Patientengeneration

Prezi_Belliger

Vortrag von Andrea Belliger “Connected – Leben in der digitalen Gesellschaft”

Spezielle Online-Communities vernetzen Patienten und helfen ihnen, eine andere Perspektive auf ihre Krankheit zu entwickeln. So entsteht eine Generation von „e-Patienten“, die mehr weiß und sich auch ihrem Arzt gegenüber anders verhält.

„Sie haben etwas in Ihrer Lunge“, hörte Dave deBronkart seinen Arzt sagen. Es war der 3. Januar 2007. Es war der Tag, an dem sich das Leben des US-Amerikaners unwiderruflich veränderte.

Eigentlich hatte deBronkart nur eine steife Schulter. Er wurde geröntgt und dabei fiel ein Fleck auf. Wie sich herausstellte: Krebs. Die Metastasen hatten sich ausgehend von der Niere bereits in seinem Körper ausgebreitet. Aussichten auf Heilung gleich null.

Statt zu resignieren, machte sich deBronkart an die Arbeit. Sein Arzt hatte ihm empfohlen, einer Patienten-Community beizutreten. DeBronkart registrierte sich, schilderte seinen Fall und stellte Fragen. Die Antworten kamen prompt und direkt: „Nierenkrebs ist eine sehr seltene Krankheit und die wenigsten Krankenhäuser haben mit der Behandlung Erfahrung.“ Er bekam Tipps und Ratschläge, die ihn auf das Kommende vorbereiteten und ihm Mut machten. Und dann erzählte ihm einer aus dem Portal von jener Therapie, die DeBronkart das Leben retten sollte.

Was sind e-Patienten?

Das kleine „e“ steht nicht allein für „elektronisch“ oder das Internet. Belliger und deBronkart begreifen das „e“ auch im Sinne von „ermächtigt“ (engl. empowered). E-Patienten sind informiert, setzen sich aktiv und kompetent mit ihrer Gesundheit auseinander und möchten von ihrem Arzt auch so wahrgenommen und behandelt werden. Wer mehr zu dem Thema wissen will, kann sich Andréa Belligers Vortrag “Connected – Leben in der digitalen Gesellschaft” ansehen.

Ohne die Unterstützung der Community hätte der 65-Jährige nicht überlebt – davon ist nicht nur er überzeugt, sondern auch sein Arzt. Heute betreibt er unter dem Namen „e-Patient Dave“ einen eigenen Blog, hält Vorträge und teilt seine Erfahrungen im Netz.

Vernetzung stärkt das Selbstbewusstsein

Das Web 2.0 verändert nicht nur die Art und Weise, wie wir einkaufen, arbeiten und lernen. „Es beeinflusst auch, wie wir mit unserer Gesundheit oder auch Krankheit umgehen“, sagt Professorin Andréa Belliger vom schweizerischen Institut für Kommunikation & Führung (IKF).

Auch in Deutschland sprechen immer mehr Menschen online sehr offen über den Umgang mit ihrer Krankheit und schließen sich in Communities zusammen. Bestes Beispiel sind die Stoma-Patienten. Rund 6000 Mitglieder zählt das Stoma-Forum Stoma-Welt.de derzeit – vor knapp zwei Jahren waren es halb so viele.

Dave deBronkart © Roger Ramirez – Chariot Photo

Dave deBronkart © Roger Ramirez – Chariot Photo

Wie in deBronkarts Online-Gruppe tauschen sich auch hier Betroffene aus. Sie reden über ihre Therapien und geben sich Tipps, etwa wie man nachts trotz Beschwerden durchschlafen kann. „Gesprochen wird auch über Sexualität und Impotenz“, sagt Sabine Massierer-Limpert von Stoma-Welt.de.

Manche stellen in den Foren der Communitys sogar ihren Arztbrief online. Von einem so freizügigen Umgang mit persönlichen Daten rät Massierer-Limpert allerdings ab: „Da stehen schließlich nicht nur Name und Geburtsdatum drauf.“

Wissenschaftler als Portalbetreiber

Die Erfahrungswelt der Betroffenen schafft ein Wissen, das viel weiter reicht als das in Fachbüchern und Studien, meint deBronkart. Die persönlichen Geschichten sind zwar nicht repräsentativ oder statistisch valide, doch sie liefern den Menschen Informationen, die jenseits des rein Fachlich-Medizinischen liegen. In The British Medical Journal (BMJ) betont deBronkart jedoch: die Informationen der Communities „ersetzen nicht das Wissen des Arztes, doch sie ergänzen es.“

Der Erfahrungsaustausch wirkt sich positiv auf die Lebensqualität und den Umgang mit der eigenen Krankheit aus. Wissenschaftler der Universitätsmedizin Göttingen und der Universität Freiburg haben deshalb in Zusammenarbeit mit der Berlin School of Public Health (BSPH) der Charité das Portal Krankheitserfahrungen.de gegründet.

Wer profitiert von den Daten?

Online-Communities werden aus unterschiedlichen Gründen betrieben. Nicht alle sind gemeinnützig. Wer auf der US-amerikanischen Website „PatientsLikeMe“ Gleichgesinnte finden will, muss wie bei Facebook ein umfangreiches Profil anlegen – allerdings zu seiner Krankheit. Dokumentiert werden die wichtigsten Haupt- und Nebensymptome, die Einnahme von Medikamenten sowie der Gewichtsverlauf. Die Daten werden anonymisiert an Pharmafirmen, Medizintechnikunternehmen oder Versicherungsgesellschaften verkauft.

Auf der Website finden Betroffene zahlreiche Erfahrungsberichte, sortiert nach Alter, Geschlecht und Krankheitsbild. Viele der Geschichten sind als Audio- oder Videostream verfügbar. Aus Datenschutzgründen sind die Namen der Personen anonymisiert. Das Ziel der Betreiber: Sie wollen die Betroffenen mit Informationen versorgen und sie emotional stärken.

Ohne die Ärzte geht es nicht

Wichtig für den Behandlungserfolg bei DeBronkart war auch die Reaktion seiner Ärzte: Sie hörten ihm zu und nahmen die Erfahrungen ernst, die er im Austausch mit anderen Betroffenen gesammelt hatte.

In seinem Buch „Lasst Patienten mithelfen“ (original „Let Patients Help! A patient engagement handbook“)* richtet deBronkart sich deshalb nicht nur an Patienten, sondern auch an Ärzte. Sie sollen begreifen, dass eine neue Generation von Patienten vor der Tür steht, die sich über ihre Krankheit im Internet informiert, Erfahrungen austauscht und ihre Gesundheit aktiv mitgestalten will.

* Eine Übersetzung von „Let Patients Help!“ enthält das Buch „Gesundheit 2.0. Das ePatienten-Handbuch“. Herausgegeben wurde es von Andréa Belliger und David Krieger und ist 2014 erschienen.