Ein Tanz auf Leben und Tod

© Judith Vanistendael/Reprodukt

In ihrer neuen Graphic Novel (dt. illustrierter Roman) “Als David seine Stimme verlor” zeigt die Zeichnerin und Autorin Judith Vanistendael, wie das Leben mit einer schweren Diagnose wie Krebs weitergeht. Aber auch wie unterschiedlich alle Betroffenen, egal ob der Erkrankte selbst, seine Freunde oder die Familie, mit der Krankheit umgehen. 

David ist Mitte fünfzig – eigentlich kein Alter zum Sterben. Doch die Diagnose ist eindeutig: David hat Kehlkopfkrebs und die Metastasen breiten sich immer weiter in seinem Körper aus. Die Graphic Novel “Als David seine Stimme verlor” von der belgischen Zeichnerin und Autorin Judith Vanistendael erzählt jedoch nicht nur die Geschichte einer Krebserkrankung, er zeigt auch, wie Freunde und Familie mit der Diagnose und mit der Hilflosigkeit solch einer Krankheit gegenüber umgehen – und das tun sie auf sehr unterschiedliche Weise.

Zwischen Traum und Wirklichkeit

Versucht David den Krebs weitestgehend zu verdrängen, so wählt seine Frau Paula die Auseinandersetzung. Anstatt die Augen zu verschließen, heftet sie die Röntgenbilder an die Wand. Statt den Tumor zu ignorieren, verfolgt sie die Ausbreitung der Metastasen. Davids erwachsene Tochter Miriam spricht hingegen ebenso ungern über die Erkrankung wie ihr Vater. Während er von dem Kehlkopfkrebs erfährt, liegt sie in den Wehen und bringt allein ihre Tochter Louise zur Welt. Dann ist da noch die neunjährige Tamar, Davids Kind aus der zweiten Ehe mit Paula. Anstatt Fragen zu stellen, träumt sie sich weg und kommt auf ganz eigene Ideen. Gemeinsam mit ihrem Freund Max will sie David nach seinem Tod mumifizieren. Wie die alten Ägypter will sie seinen Körper haltbarmachen und im Sterben die Seele einfangen – im Grunde ist Tamar alles recht, so lange ihr Vater nur bei ihr bleibt.

Tanz des Schweigens

David, Paula, Miriam und Tamar – jeder von ihnen hat seinen eigenen Umgang mit der Krankheit und so wird auch die Geschichte jedes einzelnen in einem eigenen Kapitel erzählt. Dabei gehen die Erzählungen nicht einfach ineinander über, sondern sie drehen sich umeinander und werden immer wieder durch surreale Traumszenen voneinander abgegrenzt.

“Als David seine Stimme verlor” ist ein Totentanz der Hilflosigkeit. Es ist ein stummes Ringen mit dem Unvermeidlichen, in dem die Sprache verloren gegangen ist. Statt mit den Lebenden zu tanzen, wird Miriam von Skeletten durch den Raum gewirbelt. Selbst Paula, die sich so gerne mit David übers Parkett drehte, tut dies am Ende mit einem Fremden. Jeder ist auf seine Weise in seiner Machtlosigkeit gefangen. Gefühle und Ängste werden nicht angesprochen, sie werden verdrängt. “Mach’ dir um mich bloß keine Sorgen. Alles wird gut”, beruhigt David seine Tochter Miriam. Ein Versprechen, von dem alle wissen, dass er es nicht halten kann.

Judith Vanistendael © privat

Autorin

Judith Vanistendael, geboren 1974 in Belgien (Leuven), studierte Kunst in Berlin, Gent und Sevilla und besuchte die renommierte Kunsthochschule Saint-Luc in Brüssel. 2007 debütierte Vanistendael mit ihrer Graphic Novel “Kafka für Afrikaner – Sofie und der Schwarze Mann”. Die englischsprachige Fassung ihrer aktuellen Arbeit “Als David seine Stimme verlor” ist bereits für drei Eisner Awards nominiert. Der Eisner Award gehört zu den wichtigsten Auszeichnungen für Comic-Schaffende.

Bilder erzählen mehr als Worte

Versinken die Figuren auf der einen Seite immer tiefer in ihrer Sprachlosigkeit – am Ende wird David sogar der Kehlkopf entfernt und er kann nur noch mit Stift und Zettel kommunizieren – so treiben Vanistendaels liebevolle und expressive Zeichnungen die Geschichte voran. Ihre Aquarelle geben den Takt vor, oft empathisch-berührend, dann wieder surreal ins Verstörende abtauchend. Häufig sind die Figuren nur schemenhaft angedeutet, dann wieder werden einzelne Situationen plastisch in Szene gesetzt und bekommen mitunter allegorischen Charakter. Etwa wenn Paula Röntgenbilder zurechtschneidet. Die Abbildungen des Tumors kann sie zwar nach Belieben zerlegen, den echten kann sie hingegen nicht entfernen.

Ähnlich funktioniert es auch mit der Sprache. “Seit der Chemo riecht er ganz anders”, entfährt es Paula an einer Stelle. Je sparsamer Vanistendael ihre Worte einsetzt, desto präziser entfalten sie ihre Wirkung.

Tod und Leben

Davids Geschichte ist schmerzhaft. Sie ist traurig, doch ist sie an keiner Stelle weinerlich. Denn auch wenn der Krebs sich immer weiter ausbreitet und zunehmend die Regie des Alltags übernimmt, so geht das Leben doch weiter. Vanistendael zeigt, wie schwierig der Umgang mit dem Tod, die Hilflosigkeit angesichts des Unvermeidlichen ist. Doch auch, wenn David, Paula, Miriam und Tamar ihr Leid einander nur sehr selten zeigen, so sind sie doch füreinander da. Nie weichen sie David von der Seite. Und so ist es am Ende auch das Krankenhaus, das Zimmer, in dem er stirbt, in dem Louise ihre ersten Schritte macht.

Tagesspiegel: “Ein anmutiger, würdevoller und leiser Totentanz, der seinesgleichen sucht.” 

 

Die Graphic Novel “Als David seine Stimme verlor” ist bei Reprodukt erschienen und kostet 34 Euro.