Texte ohne komplexe Struktur – und mit kraftvollen Verben statt klobigen Hauptwörtern: Literatur soll nicht immer nur schwere Kost sein. Das will ein Frankfurter Projekt beweisen. Doch es gibt auch Kritik.
Eine junge Frau hat endlich in Frankfurt eine neue Wohnung gefunden. Da klingelt eines Tages ein älterer Herr bei ihr. Der freundlich plaudernde Besucher entpuppt sich als ehemaliger Kunde der berühmten Prostituierten Rosemarie Nitribitt. Sie wurde 1957 in der Wohnung der ahnungslosen neuen Mieterin ermordet. Es ist eine witzige Geschichte, die Kristof Magnusson erzählt. Dennoch unterscheidet sich der Text von allem, was der Autor bisher geschrieben hat. Denn er benutzt dafür bewusst einfache Wörter mit simplen Sätzen – und verzichtet auf jeden Zeitsprung.
Magnusson ist einer von sechs renommierten deutschen Autoren aus der jüngeren Generation, die sich auf Anregung des Literaturhauses Frankfurt zu einem ungewöhnlichen Vorhaben zusammengetan haben. Gemeinsam haben sie für ihre Erzählungen elf Regeln aufgestellt. Im Text soll es unter anderem möglichst viele Verben geben – und wenig sperrige Substantive. Die Geschichte soll außerdem in 20 Minuten vorgelesen werden können. Mit dabei sind neben Magnusson noch Henning Ahrens, Mirko Bonné, Nora Bossong, Olga Grjasnowa und Alissa Walser.
Barrierefreie Literatur
Das Pionierprojekt will Menschen erreichen, die wegen Behinderungen ein niedriges Sprachniveau haben oder wie Zuwanderer gerade erst die deutsche Sprache erlernen. „Wir lassen ganz viele Menschen außen vor“, sagt Hauke Hückstädt, Leiter des Literaturhauses, zum Projekt.
Er verweist darauf, dass sich nach Schätzungen rund 13 Millionen Menschen in Deutschland mit dem Lesen schwer tun. Hinzu kommen noch knapp weitere acht Millionen an funktionalen Analphabeten, die mit der Schriftsprache im Alltag praktisch kaum umgehen. Dabei wird Lesen gerade im Berufsleben immer wichtiger.
Der „barrierefreie Zugang zur Information“ ist im Zuge der Inklusions-Debatte inzwischen auch von der Politik thematisiert worden. So kam der Anstoß zum Frankfurter Projekt auch vom Land Hessen, das Modellversuche zur Inklusion in der Kultur fördert.
Kritiker sprechen von „Infantilisierung“
Auf Bundesebene gibt es ebenfalls Initiativen für eine Vereinfachung der Sprache. In Münster gibt es bereits seit 2009 den Spaß am Lesen Verlag, der inzwischen rund 50 Romane in einfacher Sprache herausgibt. Darunter sind Hausautoren, die sich darauf spezialisiert haben. Andere Romane wie Wolfgang Herrndorfs „Tschick“ oder eine Biografie über Anne Frank werden in einfache Sprache übersetzt.
Sie gehören zu den Bestsellern des Verlags, wie Geschäftsführer Ralf Beekveldt berichtet. Der Holländer hat die Idee aus den Niederlanden mitgebracht, wo der Verlag seit 25 Jahren aktiv ist. „Es hat gedauert“, sagt er zu den Erfahrungen in Deutschland. „Inzwischen ist man aber auf einem guten Weg.“
Es gibt aber auch Kritiker, die eine „Infantilisierung“ der Sprache befürchten. Es sei „keine gut gemeinte Idee“, die Standards beim Schreiben zu senken, meinte vor kurzem die „FAZ“. Hückstädt vom Literaturhaus betont dagegen, dass die Initiative keinesfalls ein Aufruf an Schriftsteller sei, ihren Stil zu vereinfachen. Er sieht Bücher oder Texte in einfacher Sprache als weitere Sparte für eine bisher vernachlässigte Zielgruppe.
Auch isländische Sagen sind oft simpel strukturiert
Das Frankfurter Projekt ist bis Ende dieses Jahres angelegt. Den Auftakt zu den Lesungen haben vor Weihnachten Kristof Magnusson und Alissa Walser gemacht. Es war keine der üblichen Veranstaltungen. Neben Literaturinteressierten kamen auch Menschen mit Down-Syndrom zur Lesung. Gebärdendolmetscherinnen übersetzten die Geschichten für Gehörlose.
Nicht nur deswegen wurde es auch für die Autoren eine ungewöhnliche Erfahrung: „Für mich war es schwierig“, sagt Walser über die ihr abverlangten Schreib-Regeln. Dennoch hat sie eine einfühlsame Geschichte aus der Sicht von Margot Frank geschrieben. Die ältere Schwester von Anne Frank – die aus Frankfurt stammende Familie Frank versteckte sich vor den Nazis in einem Amsterdamer Hinterhaus – hatte ebenfalls ein Tagebuch geschrieben. Es ist jedoch verschollen.
Magnusson hat die neue Aufgabe nach anfänglichen Ängsten Spaß gemacht, wie er sagt. Die Sprache seines Vaters kenne auch keine Fremdwörter, lautet die Erklärung des Deutsch-Isländers für seine Lust am einfachen Schreiben. „Außerdem habe ich beim Schreiben an die isländische Saga-Welt gedacht“, scherzt er. Diese ist ebenfalls simpel strukturiert – und oft blutrünstig. Das passt zu seiner Geschichte über Nitribitt, deren Ermordung nie aufgeklärt wurde.
Von Thomas Maier (dpa)