„Hinschauen und sich nichts vormachen“

Wie überzeuge ich den depressiven Freund oder die magersüchtige Tochter, dass sie sich Hilfe suchen? „Reden Sie mit ihnen“, meint der Psychologe Bodo Reuser von der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung (bke).

© privat

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Redaktion: Verleugnen oder verdrängen ist zutiefst menschlich. Bei einem Kranken kann das jedoch zu einem echten Problem werden. Was kann ich da tun?

Bodo Reuser: Auf jeden Fall nicht wegschauen. Wichtig ist, die Person wirklich anzusprechen – und zwar behutsam. Am besten mit einer Ich-Botschaft, also „Ich mache mir Sorgen“ oder „Ich habe den Eindruck, dass …“. Beides sind Beziehungsangebote. Sie zeigen dem anderen, dass ich zu ihm stehe und dass er nicht allein ist. Dann sollte ich zuhören, statt ihn mit Ratschlägen zu bombardieren.

Was ist, wenn der andere das Problem abstreitet?

Dann helfen konkrete Beispiele, die zeigen, wie er sich verändert hat: Die Freunde, die er nicht mehr trifft, die zugezogenen Gardinen im Zimmer, oder dass Sie gar nichts mehr miteinander unternehmen. Ich sollte aber auch überlegen, ob ich mich nicht irre – die meisten von uns sind schließlich keine Psychologen.

Professionelle Hilfe suchen

Man kann also eine Menge falsch machen.

Nicht wirklich, solange ich achtsam vorgehe. Bin ich mir dennoch unsicher, frage ich besser einen Fachmann oder eine Fachfrau. Heutzutage bietet jede Fachberatungsstelle auch Sprechstunden für Angehörige an. Ist mir solch ein offenes Gespräch unangenehm, kann ich einfach anrufen. Auch in Online-Beratungen kann ich mich informieren – wichtig ist nur, dass ich mir professionelle Unterstützung suche.

Mögliche Anlaufstellen

Die Bundeskonferenz für Erziehungsberatung e.V. (bke) bietet auf ihrer Website eine Suche von Erziehungs- und Familienberatungsstellen in ganz Deutschland an.

Mit welchen Themen kommen die Menschen besonders häufig in die Beratung?

In unseren Beratungsstellen geht es vor allem um Erziehungsfragen oder Familienprobleme. Klassisch sind auch Suchterkrankungen. Diese Menschen sind oft schwer zu erreichen. Viele neigen dazu, sich selbst zu betrügen – und damit natürlich auch andere. Bei einer Abhängigkeit geht es ja nicht nur um die Sucht an sich. Egal, ob ich zu viel trinke, den ganzen Tag am Joint hänge oder einfach nichts mehr esse – die Sucht ist immer auch ein Symptom für ein tiefer liegendes Beziehungsproblem.

Können Sie das erklären?

Beispiel Schule. Reagiere ich auf die Hänselei meiner Klassenkameraden jahrelang mit Gummibärchen, Chips und Rückzug, wird das zu einer Angewohnheit – wenn auch zu einer schlechten. Süßigkeiten und Glotze geben mir eine scheinbare Stabilität und helfen, Ängste zu verdrängen.

Die Wahrnehmung ändern

Aber dabei bleibt es nicht …

Richtig. Häufig wird aus solch einer psychischen Gewohnheit auch eine körperliche. Sagt mir meine Mutter dann, ich soll das ändern, erreicht mich das nicht. Bei einem adipösen Kind wird der Schokoriegel irgendwann zum besten Freund, bei einem Alkoholiker die Flasche zum „sicheren Partner“. Hier sind Zäsuren wichtig.

Also Flasche weg und Karotte her.

Das wäre toll! Aber so einfach ist das natürlich nicht. Eine Zäsur beginnt mit einem Eingeständnis, mit einer Veränderung der Wahrnehmung. Allein die Tatsache, dass der Partner das Ess- oder Trinkverhalten anspricht, oder dass Vater und Mutter nachfragen, ob alles in Ordnung ist, ist der Beginn der Auseinandersetzung.

Wichtig ist also, den anderen nicht zu überfordern?

Genau. Wichtig ist, ihm Halt und Sicherheit zu geben. Allerdings dürfen Sie ihn auch nicht in Watte packen, sondern müssen ihm etwas zumuten, nämlich ihre eigenen Beobachtungen, Sorgen und Wünsche. Dazu braucht es Entschiedenheit und Klarheit – und meist auch professionelle Unterstützung.